C.H.Beck Verlag, München 2024, Klappenbroschur, 223 Seiten, 1 farbige Karte, ISBN 978 3 406 8169 0, € 18,--, E-book € 12,99
Joseph Croitoru, geboren in Haifa, schreibt als Historiker und Journalist für die deutschsprachige Presse und den Rundfunk u.a. über den Nahostkonflikt, jüdische und islamische Geschichte sowie religiösen Fundamentalismus. 2021 erschien bei C.H. Beck sein Werk „Al-Aqsa oder Tempelberg“, das hier vorgestellt wurde. Er wurde für sein Schaffen mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung ausgezeichnet.
In vorliegendem Werk beschreibt Joseph Croitoru die Islamische Widerstandsbewegung „Hamas“ in ihrer Entstehung und Entwicklung. Die arabische Bezeichnung ist „Harakat al- Muqawama al-Islamiya“; das Initialwort „Hamas“ bedeutet auch Begeisterung, Eifer, Kampfgeist usw. Ihre Invasion im israelischen Grenzgebiet zum Gaza-Streifen am 7. Oktober 2023 mit zahlreichen Opfern und Geiselnahme sowie der daraus resultierende Vernichtungskrieg Israels gegen die Hamas ist präsent in den Tagesnachrichten der Medien. Trotz vieler internationaler Bemühungen ist noch kein Ende in Sicht. Eine Karte im vorderen Umschlag veranschaulicht die geografische Lage und das Geschehen: Mit ca. 2,2 bis 2,3 Millionen Menschen, abgeriegelt auf etwa 365 Quadratkilometern – das sind knapp die Hälfte von Hamburgs Fläche –, gehört der Gaza-Streifen zu den am dichtesten besiedelten Regionen weltweit. Eingezeichnet sind die evakuierten Orte und diejenigen, die von der Hamas am 7. Oktober 2023 überfallen wurden; das Gebiet, das von Zivilisten geräumt werden sollt; die Zweiteilung des Gaza-Streifens durch Israel Mitte Oktober 2023 sowie eine vom israelischen Militär ausgewiesene humanitäre Grenze. Des Weiteren die Mauer im Norden des Gaza-Streifens; den Grenzzaun aus Draht und Beton; die Flüchtlingslager; geschlossene Grenzübergänge; den zeitweise für Ausländer und Verletzte geöffneten Grenzübergang Rafah; die für einen Zugang und die Fischerei geschlossene Meeresregion; schließlich die Krankenhäuser im Gaza-Streifen.
Der Autor präsentiert sein Werk in 17 Kapiteln. Die Einleitung bezieht sich ausführlich auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und die Vergeltung durch Israel, die einen unbarmherzigen Vernichtungskrieg gegen die Hamas, mit unzähligen Opfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung auslöste. Die Hamas, zugleich politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und Miliz, gab und gibt ihre Ziele, über alle Palästinensergebiete zu herrschen, nicht auf. Beginnend mit der wechselvollen Geschichte des Gazastreifens bis nach dem Sechstagekrieg 1967, beschreiben die weiteren Kapitel ein tragisches Ereignis nach dem anderen, mit Opfern auf beiden Seiten. Gegründet wurde die Hamas durch die Muslimbrüder unter Scheich Jassin 1988, als sie am 18. August ihre Gründungscharta verkündete, in der in Kapitel 4 u.a. das Verhältnis zu anderen Befreiungsbewegungen niedergelegt wurde. Im Folgenden berichtet Joseph Croitoru von Machtkämpfen der Befreiungsbewegungen untereinander, über den arabischen Frühling, Attentate auf beiden Seiten und so weiter. Joseph Croitoru zeigt auf, wie die palästinensische Bevölkerung von der rücksichtslosen Politik der rechtsgerichteten Netanjahu-Regierung in die Arme der Hamas getrieben wird. Im Jahre 2007 schließlich übernahm sie im Gaza-Streifen die Macht.
Joseph Croitoru zeichnet einen ernüchternden Ausblick: „Zu Beginn des Jahres 2024 scheint die israelische Armee ihrem erklärten Ziel einer Vernichtung der Hamas, ihres militärischen Arms und ihrer Herrschaftsstrukturen nur bedingt nähergekommen zu sein. Die von ihr im Gazastreifen angerichteten Zerstörungen sind immens. Noch erschreckender ist die Zahl der Zivilisten, die den israelischen Angriffen zum Opfer fallen. Mitte Januar lag die Zahl der getöteten palästinensischen Kinder nach Angaben des Informationsbüros der Hamas-Regierung bereits bei über zehntausend, weit mehr als siebentausend Frauen sind umgekommen. … Der hohe Blutzoll und die katastrophale humanitäre Lage der in den Süden des Gazastreifens vertriebenen Palästinenser scheinen die israelische Öffentlichkeit nur wenig zu bewegen. Sie beschäftigt vor allem die Sorge um die noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln, der Schmerz über das den Opfern des Terrorangriffs vom 7. Oktober angetane Leid und die Trauer um die gefallenen Soldaten.“
Eine Anmerkung zu diesem letzten Kapitel zitiert den rechtsradikalen israelischen Finanzminister. Er propagierte im November 2023: „Die freiwillige Abwanderung und die Aufnahme von arabischen Gaza-Bewohnern durch die Länder der Welt ist eine humanitäre Lösung, die dem Leiden von Juden und Arabern gleichzeitig ein Ende setzen wird.“ Weiters, dass die Aufnahme der Geflüchteten mit großzügiger finanzieller Hilfe der internationalen Gemeinschaft – inklusive Israels – geschehen könne.
Nicht nur die heftigen palästinensischen Reaktionen lassen Joseph Croitoru zu dem Schluss kommen, dass die Palästinenser niemals auf ihr Land verzichten werden. Er vermutet, dass Israel nach Beendigung seines Vernichtungskriegs als Besatzungsmacht über die politische Zukunft und den Wiederaufbau des weitgehend zerstörten Küstenstreifens bestimmen will. Und zieht als Endpunkt seiner Ausführungen das Fazit: „Für den Gaza-Streifen kann es aber eine angemessene politische Lösung nur geben, wenn die Palästinenser, möglichst mit Unterstützung der internationalen Völkergemeinschaft, selbst über ihre Zukunft entscheiden.“ - Möge diese wunderbare Vision alsbald Wirklichkeit werden! (Anm. d. Rez.)
Der Anhang enthält die nötigen Erläuterungen zu Abkürzungen sowie Anmerkungen und ein Personenregister. Das Buch ist sehr aufschlussreich und vermittelt dem Leser eine profunde Kenntnis der Hamas, aber auch der desolaten Lage der Palästinenser im Gaza-Streifen.
Helga Walter-Joswig
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