Martin Lanz, Casablanca/Rabat
Marokko ist im Zuge des «arabischen Frühlings» eine politische und wirtschaftliche Destabilisierung, wie sie Tunesien, Ägypten und Libyen erfahren haben, erspart geblieben. Die Wirtschaftsleistung, der Arbeitsmarkt und die Teuerung entwickeln sich gut. Krisenspuren finden sich dagegen im öffentlichen Haushalt und in den Transaktionen mit dem Ausland; mithilfe des Internationalen Währungsfonds sollen diese Ungleichgewichte eingedämmt werden. Vor diesem Hintergrund verfolgt das Land seinen langsamen, aber stetigen Modernisierungskurs weiter.
Beobachter vor Ort tendieren dazu, das marokkanische Glas als halb voll zu betrachten. Tatsächlich steht Marokko in vielerlei Hinsicht besser da als seine maghrebinischen Nachbarn Mauretanien, Libyen, Algerien und Tunesien, aber auch als Ägypten. Das Land profitiert auch von den Querelen in der Region, weil bekanntlich Touristen und Investoren Stabilität über alles stellen. Nicht ohne Grund hat das Institute of International Finance Marokko jüngst als sicheren Hafen bezeichnet. Mit dem Argument der relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilität wird denn auch kräftig geworben.
Effizienz wird wichtig
Dem marokkanischen König Mohammed VI, bei dem nach wie vor alle Fäden zusammenlaufen, wird ein kluges Management des «arabischen Frühlings» bescheinigt. Unter dem Einfluss der Ereignisse im Ausland gingen auch in Marokko ab Februar 2011 landesweit Tausende auf die Strasse, um mehr Demokratie und die Eindämmung der Korruption zu fordern. Verglichen mit der Situation in der Region fiel die Reaktion der Sicherheitskräfte verhalten aus. Der König reagierte rasch mit einem Reformprogramm, das eine neue Verfassung und vorzeitige Wahlen vorsah. Die Verfassung wurde in einer Volksabstimmung im Juli 2011 angenommen. Sie verleiht dem Parlament und dem Regierungschef etwas mehr Macht, aber das letzte Wort hat nach wie vor der Monarch. Es gibt wahrscheinlich auch niemanden im Land, der einen Regimewechsel möchte.
Die Reformen scheinen die Gemüter beruhigt zu haben. Evolution statt Revolution lautet der Leitsatz, der auch für die wirtschaftliche Entwicklung gilt. Das Land in Bezug auf seinen Entwicklungsstand einzuschätzen, wird einem dadurch nicht einfach gemacht. Tatsächlich kontrastieren bittere Armut auf dem Land und Subsistenzlandwirtschaft, die einen an schwarzafrikanische Entwicklungsländer erinnern, mit einer urbanen Dienstleistungs- und Hightech-Wirtschaft, die den Vergleich mit Westeuropa nicht zu scheuen braucht. So ist für die einen Marokko ein Entwicklungsland, für andere ein «Frontier Market» und für dritte ein Schwellenland.
Das World Economic Forum (WEF) unterscheidet in seiner Einschätzung der Wettbewerbsfähigkeit von Ländern drei Entwicklungsstadien: (1) das Faktor-getriebene, (2) das Effizienz-getriebene und (3) das Innovations-getriebene. Im WEF-Schema findet sich Marokko zwischen Stadium (1) und (2), was einigermassen gut nachvollziehbar ist. Denn das Land befindet sich in einer Transitionsphase, in welcher der Wohlstand nicht einfach mehr durch den zusätzlichen Einsatz von Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) gesteigert werden kann, sondern in der eine verbesserte Effizienz in der Wirtschaft eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Die Innovationskraft dagegen spielt als Wachstumsmotor noch kaum eine Rolle.
Anders ausgedrückt verfügt Marokko über relativ gute fundamentale Rahmenbedingungen (Institutionen, Infrastruktur, makroökonomisches Umfeld, Gesundheitswesen und Grundausbildung). Bei der Effizienz (Einsatz und Qualität der höheren Ausbildung, Liberalisierung der Produkt- und Arbeitsmärkte, Finanzmarktentwicklung, Marktgrösse und technologische Bereitschaft) hingegen schneidet Marokko eher mittelmässig ab. Unterdurchschnittlich ist die Innovationstätigkeit und der Sinn für die Geschäftsentwicklung und -spezialisierung. All das fasst das WEF in einer Gesamtnote zusammen, die für Marokko bei 4,1 auf einer Skala von 1 bis 7 liegt. Damit belegt das Land den 77. Platz unter 148 beurteilten Staaten. 2012 war es der 70. Platz unter 144 Ländern, 2011 der 73. unter 142.
Kein Rohstofffluch
Solche Rankings sind immer mit Vorsicht zu geniessen. Aber sie bestätigen dem Marokko-Besucher den Eindruck, dass es dem Land – mit Ausnahme vielleicht des Tourismus – wirtschaftlich etwas an Profil fehlt. Das muss nicht schlecht sein. So ist beispielsweise die Meinung weit verbreitet, dass Marokko froh sein kann, dass es anders als viele Staaten in der Region nicht über Erdölvorkommen verfügt. Nicht selten entpuppt sich Rohstoffreichtum nämlich eher als volkswirtschaftlicher Fluch denn als Segen.
Das Land ist aber nicht ganz ohne Rohstoffe. So verfügt es über die weltweit grössten Phosphatvorkommen, die durch den staatlichen Monopolisten abgebaut und vermarktet werden. Der Sektor erlangt aber – zum Glück aus Sicht jener, die den Rohstofffluch befürchten – nicht eine Bedeutung, die volkswirtschaftlich signifikante schädliche Verzerrungen mit sich bringen kann. Ein zweiter Rohstoff, dem viel Potenzial nachgesagt wird, ist die Sonne. Ambitionierte Pläne zur Gewinnung von erneuerbarer Energie bestehen. Damit wäre aber in erster Linie der steigende inländische Energiehunger zu befriedigen, bevor an den Export gedacht werden kann. Ein Experte ortet zudem auch Reformbedarf auf der Nachfrageseite, wird doch relativ verschwenderisch mit Energie umgegangen. Mehr Effizienz – Energieeffizienz – lautet auch hier die Herausforderung.
Einer, der die Meinung teilt, dass Marokko ganz gut auskommt ohne Rohstofffluch, ist der Chefredaktor der national bedeutenden Wirtschaftszeitung «L'Economiste». Mohamed Benabid ist auch einverstanden mit der Einschätzung, dass im Gegensatz zu anderen Ländern nicht auf der Hand liege, für was Marokko wirtschaftlich stehe. Ein «made in Marokko» in grösserem Stil müsse zuerst noch kreiert werden, meint er. Damit bestätigt der Kenner der marokkanischen Wirtschaft das Urteil des WEF, wonach es dem Land an Innovationskraft fehlt.
Immerhin führt aber die Absenz eines dominierenden Sektors fast notgedrungen zu einer diversifizierten Wirtschaft, die letztlich vielfältigere Wachstumsquellen und grössere Stabilität verspricht. Der Diversifizierung sind allerdings noch Grenzen gesetzt. So sind gegenwärtig in Marokko 40% der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft – die anfällig auf Trockenheit und den Klimawandel ist – tätig, die wiederum bloss 15% der Wertschöpfung Marokkos ausmacht. Dass hier grosse Produktivitätssteigerungen möglich wären und billige Arbeitskräfte für Industrie und Dienstleistungen freikommen könnten, liegt auf der Hand. Nur: Mangels Qualifikationen und Arbeitsstellen kann das nicht über Nacht geschehen, weshalb die Landwirtschaft von der Regierung auch weiter strategisch gepflegt wird.
Zwang zur Öffnung
Auch die soeben erschienene Neufassung des Doing-Business-Berichts der Weltbank rangiert Marokko im Mittelfeld. Als «lower middle income country» belegt das Land unter 189 in die Analyse einbezogenen Volkswirtschaften den 87. Rang. Zwar schneidet Tunesien in dieser Rangliste besser ab (51.), während Ägypten (128.), Algerien (153.), Mauretanien (173.) und Libyen (187.) zurückliegen. Im Gegensatz zu Tunesien hat aber Marokko in drei für das Ranking wesentlichen Reformbereichen Fortschritte erzielt und deshalb gegenüber dem Vorjahr acht Plätze gutgemacht. Dabei schneidet Marokko relativ gut ab, wenn es darum geht, ein Geschäft zu eröffnen (39.), und beim grenzüberschreitenden Handel (37.). Mittelmässig ist es beim Behandeln von Baubewilligungen, bei der Elektrizitätsversorgung, dem Steuerwesen, der Durchsetzbarkeit von Verträgen und dem Insolvenzverfahren. Beim Zugang zu Kredit, Investorenschutz und der Registrierung von Eigentum schneidet Marokko dagegen relativ schlecht ab.
Dass Marokko beim grenzüberschreitenden Handel gut abschneidet, ist keine Überraschung. Das Land hat nämlich schon früh erkannt, dass es seine relative Profillosigkeit mit einer Öffnung seiner Wirtschaft wettmachen kann. Nicht umsonst versucht Marokko seit langem aus seiner geografischen Nähe zu Europa Kapital zu schlagen. Bereits seit 2000 ist ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union in Kraft, welches die Handelsbeziehungen regelt. Mit dem «statut avancé» besitzt Marokko zudem seit 2008 eine herausgehobene Partnerschaftsplattform mit der EU.
Langjährige Präsenz
Zur Beschleunigung der Handelsliberalisierung wurden auch Bestimmungen und Zugeständnisse für landwirtschaftliche Produkte sowie Fisch und Fischereierzeugnisse im Rahmen des sogenannten Agrarabkommens mit der EU vereinbart. Dieses trat 2012 in Kraft. Darüber hinaus ist Marokko Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) und hat als erstes arabisches Land ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten abgeschlossen. Das Freihandelsabkommen mit der Efta ist bereits seit dem 1. Dezember 1999 in Kraft.
Die Offenheit kommt auch in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen zum Tragen. Marokko war 2012 jenes nordafrikanische Land, das am meisten Direktinvestitionen anzog – mehr als Ägypten, das historisch der grösste Empfänger ist. Nach 2011 (2,57 Mrd. $) flossen 2012 2,84 Mrd. $ ins Land. Frankreich und Spanien sind die Hauptinvestoren, aber auch die Schweiz ist seit Jahrzehnten präsent. Die Zurich Financial Services – heute die Nummer fünf im Land – beispielsweise eröffnete bereits 1951 eine Filiale in Marokko und konnte so das Fussfassen anderer Firmen wie Nestlé, ABB und Holcim begleiten. SGS und Roche sind ebenfalls seit vielen Jahren präsent, Novartis beispielsweise seit 1979. Daneben produziert der Textilkonzern Triumph in Marokko. Laut der Schweizerisch-Marokkanischen Handelskammer sind rund 30 Schweizer Gesellschaften in Marokko aktiv; die Schweiz ist der sechstgrösste Investor. Dem langjährigen Engagement zugrunde liegt die politische und legislative Stabilität des Landes, das für einige Unternehmen auch als Ausgangspunkt für das regionale Geschäft dient. Marokko sei vielleicht etwas langsam, dafür aber sicher, und ausländische Unternehmen würden nicht diskriminiert, heisst es von behördlicher Seite.
Auch deutsche Konzerne wie Siemens, Bayer, BASF und Beiersdorf sind in Marokko seit langem erfolgreich tätig. Eine relativ neue Entwicklung sind Investitionen der Auto- und Aeronautik-Branche. Ein Meilenstein war beispielsweise die Eröffnung einer grossen Autofabrik durch Renault in Tanger 2012. Der Luft- und Raumfahrtkonzern EADS produziert bereits seit 1998 Flugzeug-Einrichtungen in Marokko. 2012 hat nun auch der Ausrüster Ratier-Figeac eine neue Fabrik eröffnet. Und der kanadische Flugzeugbauer Bombardier will über 8 Jahre 200 Mio. $ investieren und bis 2020 etwa 850 Arbeitsplätze schaffen.
Umgekehrt investiert auch Marokko im Ausland und hat dabei seinen Hinterhof entdeckt. Allerdings findet die Wirtschaftsintegration nicht mit dem Maghreb statt, sondern zunehmend mit Schwarzafrika. Zwar möchte Marokko die Union des Arabischen Maghreb, der auch Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien angehören, wiederbeleben. Von einem integrierten maghrebinischen Markt mit über 90 Mio. Einwohnern würden alle Beteiligten profitieren. Wegen des ungelösten Westsahara-Konflikts scheint eine Annäherung aber unwahrscheinlich. Handelsimpulse aus der Nachbarschaft bleiben deshalb bescheiden; der innermaghrebinische Anteil am marokkanischen Aussenhandel beträgt weniger als 2%.
Schwarzafrika im Blick
Gebrannt durch die Krise in Europa, wo die Hälfte der marokkanischen Exporte abgesetzt werden, unter dem Druck des intensiven Wettbewerbs mit osteuropäischen Produzenten und desillusioniert hinsichtlich der maghrebinischen Integration und der bescheidenen Erträge aus dem US-Handelsabkommen richtet sich Marokko zunehmend nach Süden aus. Laut einer Analyse des Center for Strategic and International Studies haben sich die marokkanischen Direktinvestitionen von 2008 bis 2010 im Afrika südlich der Sahara fast verdoppelt, von 248 Mio. $ auf 495 Mio. $. Dabei ist Schwarzafrika praktisch die einzige Destination für marokkanische Investoren.
Besonders aktiv sind die Banken. Heute figurieren drei marokkanische Institute unter den Top 10 in Afrika mit Aktiven von über 90 Mrd. $. Die grösste von ihnen, Attijariwafa, ist in elf Ländern präsent. Diese Expansion begünstigt hat der Rückzug französischer Banken aus der Region im Zuge der Finanzkrise. Landwirtschaft, Pharma, Telekommunikation und Industrie folgen auf die Banken. Auch die Exporte nach Schwarzafrika, insbesondere nach Westafrika, haben sich zwischen 2000 und 2010 verdreifacht, wenn auch von einem bescheidenen Niveau aus. Sie machen bis jetzt nur etwa 5% der marokkanischen Exporte aus. In ihrer Afrika-Strategie kommt den Firmen entgegen, dass sie aus einem relativ grossen und stabilen Heimmarkt heraus operieren können. Marokkos Nachbarn sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie Energie für solche Auslandaktivitäten aufbringen könnten.
Quelle: nzz.ch
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