Das Buch wirkt wie ein Bildungsroman in realen Briefen von realen Flüchtlingen, die auseinandergerissen ihr Leben irgendwie unter Not-Bedingungen weiter produktiv gestalten wollen. Die dunklen Drohungen von Völkermördern und Bürokratien, die keine Ahnung haben von der Not dieser Menschen, lugen an den Enden der Briefe immer wieder in den Brief-Roman hinein. Manchmal müssen sich die Briefschreiber auch ermahnen, was sie aufdecken wollen, was sie abschneiden müssen, weil es wegen der Zensur nicht nach Deutschland gelangen darf.
Was ist geschehen? Der junge 14jährige Deutsche Hajo Meyer ist ein unglaublich ausbildungs- und lernsüchtiges Kind, will Englisch, Spanisch, Französisch lernen, Romane und Fachbücher über Statik und Maschinenbau lesen, aber leider ist er der jüngste Sohn von zwei jüdisch-deutschen Eltern, Dr. Gustav Meyer und Therese Meyer aus Bielefeld.
Er war damals 14 Jahre alt, als er aus Deutschland in eine Kinderlandverschickung in das Nachbarland Niederland kam. In der Reichspogromnacht wurde seinem Vater die Richterrobe und sein Barett entzogen. Der Rechtsanwalt und Notar hatte als dekorierter Deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg mitgekämpft und war schon vor 1914 Dr. jur. geworden. Als preußischer Staatsbeamter konnte er nicht glauben, dass er mal der Vernichtung anheimfallen würde, also des brutalen Mordes. Er war vom 9. November 1938 nur noch Rechtsberater für Juden. Der älteste der Meyer Söhne Rolf konnte 1939 mit einem Kindertransport nach England auswandern. Der mittlere Sohn Alfred war schon als einziger im Besitz eines sog. Affidavits und war im Jahre 1938 mit dem Unglückschiff der Hapag unterwegs gewesen, das aber die Juden nirgendwo unterbringen konnte. Zurückgekehrt nach Hamburg konnte er der Gestapo entkommen und ein belgisches Schiff von Antwerpen in die USA erreichen, wo er später US-amerikanischer Soldat wurde. Er hatte als Soldat 1945 in Deutschland begonnen nach seinem jüngeren Bruder zu suchen, den er schließlich in Amsterdam fand. Hajo war mit einem Kindertransport nach Holland gekommen und schrieb Briefe, die Briefe eines Pennälers und Jugendlichen, der voller Tatendrang war, ein Maschinen- und Motorradfan war und auch sonst von der unglaublichen Schwere des Lebens seiner Eltern in Deutschland wenig mitbekam. Die Briefe sind in einer spontan burschikosen Sprache abgefasst. Der junge Hajo Meyer kommt erst nach Eindhoven ins Dommelhuis. Er schreibt immer wieder – fast täglich Briefe, denn die besten Erzieher von Kindern sind nun mal Vater und Mutter. „Mutti, was soll ich anziehen“, schreibt er der Mutter am 13. Oktober 1939 - “wenn ich nach Rotterdam fahre? Meine lange blaue Hose mit Jacke, die aber in der Farbe nicht ganz übereinstimmen, oder soll ich den braunen Anzug einweihen, da kommen nur die Knickerbocker in Frage, die langen sind noch zu groß“.
Ein täglich nachzuerlebendes Beispiel der tiefinneren Abhängigkeit von den Eltern. Die Briefe der Eltern hat Hajo Meyer bei seiner Reise in die KZs nicht mitgenommen, weil sie zu gefährlich waren. Seine eigenen Briefe an die Eltern haben nicht-jüdische Freunde der Familie, z.B. die Familie von August Ellermann aus Brake bei Bielefeld unter großer Gefahr für sich selbst versteckt, wie Hajo Meyer in einem Vorwort schreibt. „Ohne die Hilfe solch guter nicht-jüdischer Deutscher und Holländer hätte kaum einer meiner Generation überleben können“. Die Briefe des jungen Hajo an seine Eltern wie seine Brüder „Hölle“ (=Rolf) und Ali (=Alfred) sind zu großen Teilen erhalten. Im März 1941 wird das „Joodsche Werkdorp Nieuwe Sluis“ von der SS geräumt. Hajo kann bei der befreundeten Familie Hecht in Amsterdam unterkommen und berichtet weiter den Eltern in fast täglichen Briefen. Die leise Debatte um die „Passage“, um das wichtige Visum für ein Land in Lateinamerika oder Asien (Shanghai), um das Zauberwort Affidavit wird in den Briefen heftiger. Die Kinder spüren durch die sich ausdehnenden Kriegsgebiete der Naziarmeen, die Europa überrennen, dass es allmählich Zeit für das Verschwinden aus Mitteleuropa wird. Die Briefe wirken oft wie eine Fernlehre, der Sohn Hajo möchte jeden Tag wissen, ob seine Eltern mit ihm zufrieden sind, deshalb muss er schreiben und ist ganz heftig auf die Antwortbriefe und die Bestätigung der Briefe angewiesen. Die „Passage“ dämmert durch, ein Onkelt Fritz hat es geschafft, nach Shanghai zu kommen. Aber der junge Hajo fragt sich entgeistert, was sollen wir – die Meyers aus Bielefeld in Deutschland in Shanghai?
Dr. Gustav Meyer kam als ehemaliger Frontkämpfer erst später auf die Liste der zu deportierenden Juden. Er wurde - weil eben Frontkämpfer - in das Elitelager Theresienstadt abgeführt und nicht nach Auschwitz. Ein Jahr nach der Deportation am 15. Mai 1944 starb Hajos Vater an einer Krankheit. Beide Eltern schrieben noch vor der Deportation je einen Brief an ihre drei Söhne, Briefe, die die Söhne erst nach Ende des Krieges lesen durften. Die Mutter schrieb, dass sie in besonderer Sorge um „unseren Hajo“ sei. Aber sie hofft, dass er sich mit seiner Energie und Tapferkeit bis zu dem nicht mehr „fernen Frieden“ aufrecht halten werde. „Wir haben euch alle drei gleich lieb, aber auf unser Nesthäkchen sind wir besonders stolz“. Sie betont, dass sie beide eine 27 Jahre dauernde „nie getrübte, harmonische Ehe geführt haben, in der sie drei Kinder in die Welt setzen sollten, „auf die wir voll Stolz und Glück blicken“. Man kann diese Briefe nur mit größter Rührung lesen.
Die Briefe des jungen Hajo sind die Briefe eines Lausbuben, der auf Zeit von seinen Eltern getrennt ist. Der nur schüchtern ahnen läßt, dass er etwas von der Zeitgeschichte mitbekommt, und auch hofft, dass er für eine Lehre als Maschinenschlosser entweder nach England oder gar in die USA kommen darf. Hajo war in einem säkularen jüdischen Haus aufgewachsen. Und als er in einem Brief vom März 1939 erzählt, dass er bei seinen Erkundigungen nach Möglichkeiten des Studiums im Augenblick nur Palästina sieht, das in Frage komme: „Wenn ich mich da zur Alliya anmelde, kann ich in einem halben Jahr schon drüben sein und was Vernünftiges lernen. In zwei Jahren bin ich dann Palästinenser und englischer Untertan.“ Aber er fügt hinzu, und das ist auch für den heutigen Hajo Meyer ganz wichtig. „Jetzt denkt nur nicht, ich wäre Zionist geworden, doch man muss sich doch auch das mal überlegen.“ Seinen Eltern empfiehlt er, dass sie sich mal beim Sozialausschuss erkundigen. Er glaube nämlich nicht, das sich in absehbarer Zeit eine Gelegenheit in Holland ergeben wird, einen Beruf zu erlernen. „Höchstens, dass wir alle nach Palästina oder die USA verfrachtet werden.“
Man liest diese Briefe mit Freude und gleichzeitiger Beklemmung und einem Gruseln, denn die Härte der Zeit, in der es um das Überleben dieser Menschen, dieser Familie, dieser drei Kinder ging, wird nur immer wieder angedeutet, auch, wie der junge Hajo 1943 in den Untergrund ging und dann noch verraten wurde. Der Verlag hätte vielleicht einige wenige Zeilen mit den zeitgeschichtlichen Kriegsdaten einfügen sollen, wie Zeitungstitelzeilen, um diese Dramatik der Lektüre noch anzureichern. Wer den am 12. August 2014 neunzig Jahre alten nimmermüden und immer wieder aktiven Hajo Meyer kennt, wird ihn auch schon in den Briefen wiedererkennen, die der 14- bis 18 jährige geschrieben hat. Mit einer Diktion, die er sich bis heute erhalten hat; der Brief an seinen Bruder mit dem Spitznamen „Hölle“ fängt so an: „Du bist ein Arsch. Vater und Mutter schrieben dir in jeder Post, aber du hast es nicht nötig zu schreiben. Du Arsch!“
An eben diesen Bruder schreibt er am 3. April 1940 nach England als Mahnung am Schluß. Er solle weiter an die Eltern mitschreiben, „denn sie freuen sich immer sehr mit diesen Briefen. „Achte aber darauf, dass man alles nicht für Deutschland bestimmte abschneiden kann.“
Wer den unglaublich bewegenden Menschenfreund und Menschenrechtsenthusiasten Hajo Meyer als Redner, als Geigenspieler, als Geigenbauer, als Palästinenserfreund kennt und schätzt, wird durch diese Briefe noch einmal im tiefsten Innern bewegt. Dieser Hajo Meyer hat überlebt, auch weil er zufällig bei seiner Festnahme einen SS-Offizier sprach, der ihn fragte, wo er herkam. Und als er sagte Bielefeld, sagte ihm dieser SS-Scherge überrascht: „Ich komme aus Oerlinghausen“. Das liegt 12 km von Bielefeld entfernt. Hajo Meyer darauf: „Da habe ich einen Onkel!“ Wer ist das, fragte der SS –Mann. „Sanitätsrat Dr. Meyer“. Das war der Dorfarzt von Oerlinghausen. „Was“, rief der SS-Mann, „das ist dein Onkel? Der hat meiner Frau das Leben gerettet!“ Der SSler habe ihn nicht weiter befragt, geschweige gefoltert. Ohne jemanden das zu verraten, hat er ihn in das Durchgangslager Westerbork geschickt. Von dort kam er nach Auschwitz. Hajo Meyer schreibt auf der letzten Seite dieses nicht nur das Grauen anzeigenden, sondern auch sehr tröstlichen Buches: „Als wir aus dem Zug zum KZ gingen, ging ich neben einem, der mein Freund fürs Leben geworden ist.“ Jos, ein holländisch_jüdischer Kommunist. Wir haben einander geholfen und so haben beide das KZ überlebt.
So wie dieser wunderbare Bielefelder immer sich für andere eingesetzt hat, hat das auch der in Beckum gebürtige, auch 90jährige Uri Avnery getan. Der eine kam nach Palästina und trat in die Armee der Irgun ein, die er später sehr kritisch sah. Avnery ist wie Hajo Meyer immer wieder auf den Wegen der Versöhnung, der Zusammenarbeit mit den sog. Feinden oder, wie Martin Buber gesagt hätte, den Nachbarn gegangen. Hajo Meyer widmet diese Herausgabe seiner Briefe der Arbeit mit Flüchtlingen, weil aus den Briefen hervorgeht, was Menschen auf der Flucht brauchen. Er hat dieses Buch auch herausgebracht, um zu zeigen, wie ihm in den Niederlanden als Flüchtling ein neues Leben nach rassistischer Verfolgung gelang. Und weil die internationale Flüchtlingsproblematik immer noch akut ist. Und „weil die Bildungschancen von Flüchtlingen noch immer problematisch sind.“ Hajo Meyer, der große 90 Jahre alt gewordene Menschenfreund, resümiert sein Leben mit dem Sätzen: „Jegliche Fremdenfeindlichkeit ist unmenschlich. Sie beginnt immer mit dem menschlich, ja allzu menschlichen Gefühl ‚Wir‘ gegen ‚Die da‘ und droht fast immer in einem Genozid zu enden“.
Hajo G. Meyer: Briefe eines Flüchtlings 1939 – 1945.
Frank und Timme Verlag Berlin 2014 310 Seiten
< In Gedenken an Dr.-rer.nat. Hajo G. Meyer