Daoud Nassar macht sich keine Illusionen darüber, ob ihm Israel Wiedergutmachung für seine Apfel- und Aprikosenbäume zahlt. «Aber die Zerstörung muss aufhören», sagt der 44-jährige Palästinenser, nur deshalb habe er Klage eingereicht. Auf dem rund 3 Hektaren grossen Landstück im Westjordanland deutet nichts mehr darauf hin, dass es hier je eine Obstplantage gab. Vor knapp drei Wochen kamen die Soldaten, wälzten Hunderte Bäume und Weinstöcke platt und begruben sie unter der Erde. Bei dem Grundstück handle es sich um staatliches Land, so warnten von den Militärs angebrachte Zettel kurz zuvor. «Unser Anwalt legte Einspruch dagegen ein», sagt Nassar. Die Einhaltung des üblichen Rechtswegs hätte eine Verhandlung nötig gemacht.
«Tent of Nations», so heisst die Farm der Nassars: ein «Zelt der Völker», das Menschen aus aller Welt beherbergen soll, vor allem aber solche aus Palästina. Die kleine Oase des Friedens inmitten des Nahostkonflikts ist Daouds Initiative. «Wir weigern uns, Feinde zu sein» steht auf einem bunten Stein an der Auffahrt zum Hof geschrieben. Nassar hat schon in der Schule Deutsch gelernt und später in Deutschland und Österreich studiert. Der Hof ist nur zu Fuss erreichbar, denn die Zufahrt ist seit Jahren durch Schutt und Geröll versperrt. Die Besatzungsbehörden werfen der palästinensischen Familie «Bau ohne Genehmigung» vor, darunter fallen ein Versammlungsraum mit kleiner Küche und der Pferdestall. Nach schriftlicher Auskunft der Armee sind indes die laufenden Verfahren vorläufig eingestellt worden.
Die Farm besteht seit 100 Jahren
Noch immer aufgewühlt über die Zerstörung der Obstplantage, will es Daoud Nassar nicht in den Kopf, «wie ein Stück Land, das mitten zwischen anderen privaten Grundstücken liegt, plötzlich staatliches Land sein kann». Fast wie ihre Kinder, so beobachteten die Bauern die Bäume, «wie sie jedes Jahr wachsen und grösser werden». Den Ungerechtigkeiten müsse ein Ende gemacht werden. Gut 120 000 Franken verlangte der Anwalt der Nassars an Kompensation. Das sei die Summe, die das palästinensische Landwirtschaftsministerium für den Schaden veranschlagt habe.
Die Farm, die der Grossvater vor fast genau 100 Jahren kaufte, liegt knapp zehn Kilometer südwestlich von Bethlehem. Das Gebiet umfasst rund 40 Hektaren Land und mehrere Höhlen, in denen die Familie anfangs lebte. «Für meinen Grossvater hatte diese Lebensform spirituelle Bedeutung», erklärt Nassar, der selbst noch in den Höhlen aufgewachsen ist und nichts Ungewöhnliches daran findet. «Hier ist es im Sommer kühl und im Winter warm.»
Während der letzten Jahre zog sich der Gürtel von fünf israelischen Siedlungen rings um das Grundstück der Familie immer enger zusammen. «Früher gab es oft Ärger mit den Siedlern», erinnert sich Nassar. Zum letzten Mal hätten sie vor zwölf Jahren versucht, eine Strasse durch das Grundstück zu ziehen. «Wir stoppten sie, und zum Dank rissen sie 250 unserer Olivenbäume aus dem Boden.» Den jüdischen Nachbarn ist der dickköpfige Palästinenser ein Dorn im Auge. Der Lutheraner will das Erbe seines Grossvaters und des Vaters fortsetzen, die beide gottesfürchtige Männer waren und die Hoffnung auf einen Frieden niemals aufgaben. Das «Zelt der Völker» ist für ihn ein Weg, Widerstand gegen die Vertreibung seines Volkes zu leisten. «Wir wollen keine Steine werfen», sagt er, «aber wir werden auch nicht weinend aufgeben.» Die Vernichtung der Obstplantage war der erste Zerstörungsakt durch die Armee, abgesehen von der mit Geröll zugeschütteten Zufahrtsstrasse.
Gerade rechtzeitig zur Apfel- und Aprikosenernte erwarten Daoud und sein älterer Bruder Daher Nassar in der kommenden Woche eine Gruppe freiwilliger Helfer auch aus der Schweiz. «Zu ernten gibt es in diesem Jahr nichts mehr», sagt Daher betrübt. «Wie können Bäume gefährlich sein?», schüttelt er den Kopf noch immer ungläubig angesichts der Zerstörung. «Wir haben Unterlagen von der türkischen Regierung, von den Briten und von den Jordaniern darüber, dass uns das Land gehört.» Die Plantage lag im Tal, wo das meiste Regenwasser für die Bäume aufgefangen wird. «Es dauert Jahre, bis ein junger Baum Früchte trägt.»
Ein Siedler baute Toiletten
Auch ohne die Obsternte bleibt mit den Tieren, den Pflanzen und mit neuen Projekten, die sich Daoud für das «Zelt der Nationen» ausdenkt, genug zu tun. Zwei deutsche Studenten sind schon vor einem Monat gekommen, eine junge Amerikanerin schneidet auf der Terrasse des Gemeinschaftsraums Rotkohl. Manche Volontäre kommen für mehrere Monate und wohnen in einem der Zelte oder in den Höhlen. Die jungen Idealisten nehmen es in Kauf, dass es weder Strom noch fliessend Wasser gibt. «Ausgerechnet ein israelischer Siedler», so sagt Daoud Nassar, «hat uns mehrere Komposttoiletten gebaut.»
Israelis gehören indes nicht zu den Stammgästen. «Wir haben viel Sympathie und Solidarität von Israelis erfahren, nachdem unsere Bäume zerstört wurden», meint Daoud; trotzdem stelle sein eigenes Volk für ihn die wichtigste Zielgruppe dar. Die Palästinenser sollten mehr Initiative ergreifen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen: «Es ist so leicht, in Passivität und Selbstmitleid zu verfallen», sagt er. «Wir sehen die schönen Siedlungen ringsherum mit grünen Wiesen und Swimmingpools, aber wir werden uns nie weiterentwickeln, wenn wir selbst nichts dafür tun.»
Zentrales Element der Friedensarbeit sind die Sommerlager. Die Kinder und Jugendlichen lernen, wie man aus alten Plastikflaschen ein Gewächshaus baut und dass sich aus Abfall Biogas gewinnen lässt. Überall haben die jungen Gäste aus der Umgebung und aus dem Ausland einen kreativen Stempel hinterlassen: ein Mosaik neben dem Esstisch, Malereien an Wänden und Bänken. «Mit Herz und Hand verändern wir das Land» steht in gemalten Buchstaben an einem Freilufttreffpunkt.
Israel hat Verwaltungshoheit
Es fehlt an Ausbildungsplätzen, das ist gemäss Nassar ein zentrales Problem und ein Grund für die wirtschaftliche Misere Palästinas. «Es gibt so viele Leute hier, die einfach nichts tun», schimpft er. Anstatt mit internationalen Geldern neue Strassen zu bauen, sollte man «lieber in die Menschen investieren» und Berufsschulen errichten. Nur mit Hilfe zur Selbsthilfe könne langfristig eine Unabhängigkeit geschaffen werden.
Auch für seinen Bauernhof strebt der idealistische Christ mehr Unabhängigkeit an. Eine Zisterne will er anlegen und Windturbinen. Wenn ihm nur die Besatzungssoldaten nicht wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Das Land gehört zur «C-Zone», das bedeutet, dass Israel nicht nur für die Sicherheit zuständig ist, sondern auch volle Verwaltungssouveränität hat. Um den Hof auszubauen, braucht man Genehmigungen. «Der oberste Gerichtshof in Jerusalem hat uns zugesagt, dass wir unser Land nach israelischem Recht registrieren lassen können», meint Nassar, der seit acht Jahren vergeblich gegen die bürokratischen Wände der Militäradministration anrennt.
Die beiden CH-Tageszeitungen Tagesanzeiger (Zürich) und Bund (Bern) haben heute diesen ausführlichen Bericht , den Sie hier finden, publiziert.
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