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14.07.2014

 

Unsere Verzweiflung ist unser Untergang

 

 

Israels Politik

Unsere Verzweiflung ist unser Untergang

Der Nahe Osten droht zu explodieren. Wer jetzt noch an den Frieden glaubt, braucht Hoffnung. Genau daran fehlt es. Ein Weckruf an die israelische Politik.

09.07.2014, von DAVID GROSSMAN

 

Die Hoffnung und die Verzweiflung - es gab Jahre, da wurden wir in meinem Land zwischen beiden hin und her geworfen. Heutzutage scheint sich die Mehrheit der Israelis und der Palästinenser in düsterer, stumpfer Verfassung zu befinden, aussichtslos, in einer Apathie des Tiefschlafs oder selbstgewählter Benommenheit.

 

In Israel, das mit Enttäuschungen viel Erfahrung hat, tritt die Hoffnung heute (falls sie überhaupt noch jemand erwähnt) nur zögerlich auf, leicht beschämt, sich vorab schon entschuldigend. Die Verzweiflung hingegen kommt sicher und entscheidungsfreudig daher, als spräche sie im Namen eines Naturgesetzes oder eines Axioms, gemäß dem es niemals Frieden zwischen diesen beiden Völkern geben könne und der Krieg zwischen ihnen ein Dekret des Himmels wäre. Aus Sicht der Verzweiflung ist jeder, der noch hofft und an die Möglichkeit des Friedens glaubt, im besten Falle naiv oder ein Träumer, der sich in Illusionen wiegt, im schlechtesten Falle aber ein Verräter, der Israels Durchhaltevermögen schwächt, indem er es dazu ermutigt, sich falschen Visionen hinzugeben.

 

In dieser Hinsicht hat die politische Rechte in Israel gesiegt. Die Rechte, die an dieser Weltanschauung festhält, hat es geschafft, sie der Mehrheit der Israelis erfolgreich beizubringen. Man kann sagen, dass die Rechte nicht nur die Linke bezwungen hat. Sie hat Israel bezwungen. Nicht allein, weil diese pessimistische Weltanschauung den Staat Israel in einer Frage, die für seinen Fortbestand ausschlaggebend ist, lähmt, obwohl gerade hier Mut, Beweglichkeit und Kreativität gefragt sind; die Rechte hat Israel besiegt, indem sie unterworfen hat, was man ehedem den „israelischen Geist“ hätte nennen können: jenen springenden Funken, unser Vermögen zur Wiedergeburt, den Geist des Trotzdem und des Muts. Der Hoffnung.

 

Gegenüber der für seine Existenz wichtigsten Frage verharrt Israel heute so gut wie reglos, man kann auch sagen, es sei untätig. Eigenartigerweise ist dieser Zustand für Israel aber nicht mit offensichtlichem Leiden verbunden: Den führenden Köpfen wie den meisten Bürgern gelingt es, ihre Situation zu verdrängen, Realität und Vorstellung voneinander zu trennen. So leben sie schon viele Jahre, 47 Jahre seit dem Sechstagekrieg und der folgenden Besetzung, und das nicht einmal schlecht, obwohl im Zentrum ihres Daseins im Grunde Leere herrscht. Leere an Taten, Leere an Bewusstsein, eine Leere, in der auf effiziente Weise jede moralische Beurteilung und Erkenntnis der Verzerrung, die der gesamten Situation zugrunde liegt, suspendiert wird.

 

Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace erzählte einmal eine Geschichte von zwei jungen Fischen, die sich im Wasser tummeln und einem älteren Fisch begegnen. „Hey, Leute“, meint der ältere Fisch zu ihnen, „wie geht’s?“ „Großartig“, sagen die beiden. „Wie ist das Wasser?“, erkundigt er sich. „Das Wasser ist super“, antworten die beiden Jüngeren. Sie verabschieden sich und schwimmen weiter. Kurze Zeit später fragt der eine den anderen: „Sag mal, was zum Teufel ist Wasser?“

 

Hört auf das Wasser! Das Wasser, in dem wir bereits 47 Jahre schwimmen und das wir ebenso lange trinken. Das wir so sehr gewohnt sind, dass wir es nicht mehr spüren. Dieses Wasser ist das Leben, das hier fließt. In ihm sprudeln zweifellos nach wie vor Vitalität und Schaffenskraft, aber mit seiner chaotischen Schlussverkaufsstimmung ist dieses Leben in gewissem Maße auch wahnsinnig; es herrscht eine Stimmung, in der Manie und Depression miteinander verflochten sind, gewaltige Stärke in abgrundtiefe Schwäche stürzt. Es ist ein Leben in einer selbstzufriedenen Demokratie mit angeblichem Liberalismus und Humanismus, die aber bereits seit Jahrzehnten die Besatzungsmacht eines anderen Volkes ist, das sie erniedrigt und zerdrückt.

 

Es ist ein Leben, das sich im schweren Geschützfeuer der Medien vollzieht, deren überwiegender Teil der Zerstreuung und gezielten Verdummung der Sinne dient. Denn in der Tat: Wie wäre es möglich, all das ohne ein wenig Zerstreuung und Selbstbetäubung zu ertragen? Wie könnte man, beispielsweise, den Resultaten des sogenannten „Siedlungsvorhabens“ ins Auge sehen? Der umfassenden Bedeutung dieser irrsinnigen Wette auf die Zukunft des Staates? Hört auf das Wasser: Gleich neben den seichten Stellen, in denen wir bereits 47 Jahre waten, fließt eine kalte Tiefenströmung. Es ist die immense Furcht vor dem historischen Unrecht und dem großen Fehler, vor alldem, was zusehends an Stärke gewinnt: in Gestalt eines Zwei-Völker-Staates oder eines Apartheid-Staates oder eines Staates all seiner Soldaten oder all seiner Rabbiner, all seiner Siedler, all seiner Erlöser.

 

Vielleicht, vielleicht ist die Verzweiflung, die uns in den letzten Jahren regiert, auch ein wenig die Verzweiflung derer, die ihr Schicksal ereilt hat, die inzwischen durchschaut haben, dass die Strafe dafür, was sie an Missetaten begangen haben, was sie durch ihre Unterstützung oder ihr Stillschweigen oder ihre Gleichgültigkeit begünstigt haben, unumgänglich ist. „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sterben wir.“

 

Nicht zuletzt schwingt in der israelischen Verzweiflung ein befremdliches Element mit: eine Art Freude im Unglück oder zumindest Freude in der Enttäuschung. Eine Art Schadenfreude gegenüber jedem, dessen Hoffnungen enttäuscht wurden. Es ist eine besonders abwegige Freude, entpuppt sie sich doch letztlich als Schadenfreude gegenüber uns selbst: Zuweilen macht es den Eindruck, dass die israelische Psyche noch immer nicht die Kränkung darüber verwunden hat, dass sie 1993, als die Oslo-Verträge unterzeichnet wurden, nicht nur an den Feind zu glauben wagte, der für einen Augenblick zum Partner wurde, sondern an die generelle Möglichkeit, dass es sich zum Guten wenden, es hier irgendwann gut werden könnte. Es uns hier irgendwann gut ergehen könnte.

 

Indem wir uns dazu verleiten ließen - so argumentieren die Anhänger der Parteien der Verzweiflung -, an etwas zu glauben, das in derart großem Widerspruch zu unserer Lebenserfahrung, unserer tragischen Geschichte steht, haben wir Verrat an uns, an einem entscheidenden Erkennungsmerkmal für unser Schicksal begangen, und für diesen Glauben haben wir bezahlt und werden noch den Zinseszins zahlen. Zumindest wird man uns von nun an nicht mehr dabei ertappen, an irgendetwas zu glauben, an irgendein Versprechen, irgendeine Chance.

 

Selbst wenn Mahmud Abbas, der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, sich mit ganzer Kraft dafür einsetzt, den Terror gegen die Israelis zu unterbinden, und erklärt zu wissen, dass er seine Geburtsstadt Safed nur als Tourist betreten wird; selbst wenn er proklamiert, dass die Schoa das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte darstellt; und auch wenn er wutentbrannt die Entführer und Mörder der drei jugendlichen Talmud-Schüler angreift - selbst wenn er all das tut, wird ihm der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Windeseile mit einer kalten Dusche antworten.

 

Selbst wenn die Staaten der Arabischen Liga Israel eine Initiative vorlegen, die einen Prozess in Gang setzen kann, der eine ausdrückliche Einladung zu einem jahrelang ersehnten, neuartigen und bisher ungekannten Dialog beinhaltet, wird die israelische Regierung ihn zwölf Jahre vollständig und demonstrativ zu ignorieren wissen. Denn: Keiner wird uns je wieder täuschen. Wir lassen uns nicht übers Ohr hauen. Nie wieder wird man uns dabei ertappen, dass wir einem Palästinenser oder irgendeinem Araber etwas glauben. Auch keinem amerikanischen Außenminister, der ohnehin nicht versteht, was das Leben wirklich ausmacht, und auch keiner Hoffnung, je ein besseres Leben zu haben. Oder irgendein Leben.

 

Interessant ist, dass wir den Weg des Friedens mit den Palästinensern ernsthaft nur einmal, 1993, beschritten haben. Der Versuch ist gescheitert, und es hat den Anschein, als hätte Israel daraufhin beschlossen, diese Option ein für alle Mal zu begraben. Auch hier ist die verzerrte Logik der Verzweiflung am Werk. Den Weg des Kriegs, der Besatzung, des Terrors, des Hasses haben wir Dutzende Male beschritten, ohne dessen müde zu werden oder daran verzweifelt zu sein. Was hat es damit auf sich, dass wir uns ausgerechnet vom Frieden überstürzt und endgültig trennen wollen, nachdem wir nur einmal gescheitert sind?

 

Angst vor dem Verfolgtwerden, dem Opfersein Israel hat, selbstverständlich, vielerlei Gründe zu Angst und Sorge. Der Nahe Osten ist in Aufruhr, wird von fanatischen Strömungen in Mitleidenschaft gezogen, seine Mehrheit ist Israel gegenüber äußerst feindselig eingestellt und strebt offenkundig nach seiner Vernichtung. Aber gerade aufgrund dieser Gefahren und Bedrohungen können Verzweiflung und Nichthandeln als effiziente politische Strategie nicht taugen.

 

Die israelische Regierung, alle israelischen Regierungen legen und legten ein Verhalten an den Tag, als hielte die Verzweiflung sie gefangen. Ich kann mich nicht erinnern, je eine ernsthafte hoffnungsvolle Äußerung von Benjamin Netanjahu oder seinen Ministern und Beratern gehört zu haben. Auch nicht ein einziges visionäres Wort zu den Möglichkeiten, die ein Leben in Frieden in sich birgt, oder zu der Chance, dass Israel sich in ein neuartiges Gefüge aus Bündnissen und Interessen im Nahen Osten integrierte. Wie konnte es dazu kommen, dass die „Hoffnung“ zu einem groben, anklagenden Wort mutiert ist, nach dem Wort „Frieden“ schon das zweite mit gefährlicher Strahlung?

 

Es ist empörend, dass die gewaltige Militärkraft, die Israel angehäuft hat, ihm nicht den Mut verleiht, seine Angst und existentielle Verzweiflung zu überwinden und einen entscheidenden Schritt in Richtung Frieden zu unternehmen. Schließlich besteht die große Idee der Gründung des israelischen Staates darin, dass das jüdische Volk an seine Heimstätte zurückkehrt, wo es niemandem mehr zum Opfer fällt. Damit wir nie wieder von uns überlegenen Mächten handlungsunfähig gemacht und unterworfen werden. Und seht uns an: der stärkste Staat der Region, eine Großmacht im regionalen Maßstab, die die fast beispiellose Unterstützung der Vereinigten Staaten, die Sympathie und Verpflichtung Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs genießt. Doch tief im Inneren schaut Israel immer noch auf sich als hilfloses Opfer herab. Es verhält sich immer noch wie ein Opfer - seiner Ängste, der realen und eingebildeten, der Greuel seiner Geschichte, der Fehler seiner Nachbarn und Feinde.

 

Diese Weltanschauung drängt uns, die jüdische Öffentlichkeit Israels, dorthin, wo wir als Volk am verwundbarsten sind und die größten Wunden davongetragen haben. Abermals drücken sich in uns Israelis des Jahres 2014 die Ängste des jüdischen Schicksals aus, die Erfahrungen des Verfolgtwerdens, des Opferseins, das Gefühl einer starken, existentiellen Fremdheit des jüdischen Volkes unter den anderen Völkern.

 

Welche Hoffnung kann bei einem derart schwierigen Stand der Dinge aufkommen? Eine Hoffnung des Trotzdem. Eine Hoffnung, die die zahlreichen Gefahren und Hindernisse nicht ausblendet, sich aber auch nicht gänzlich von ihnen vereinnahmen lässt. Eine Hoffnung, die darauf gründet, dass nach Erlöschen der Flammen, die den Konflikt anfachen, sich allmählich wieder die gesunden und vernünftigen Züge zweier Völker abzeichnen können. Dann kann die heilende Kraft des Alltäglichen, der Weisheit des Lebens und der Weisheit des Kompromisses wirken. Des Gefühls der existentiellen Sicherheit. Der Möglichkeit, Kinder aufzuziehen, die nicht Todesängsten ausgesetzt sind, von einer Besatzungsmacht erniedrigt oder vom Terrorismus bedroht sind. Der grundlegenden Sehnsüchte eines menschlichen Lebens nach Familie, Arbeit und Lernen. Des Lebensgefüges.

 

David Grossman - Der israelische Schriftsteller spricht mit Prof. Giulio Busi, dem Leiter des Instituts für Judaistik an der FU Berlin über die heutige israelische Literatur in der Rost- und Silberlaube an der FU.

© PEIN, ANDREAS Vergrößern

David Grossmann

Derzeit sind in beiden Völkern fast ausschließlich die Propagandisten der Verzweiflung und der Feindseligkeit am Werk, daher fällt es wohl schwer zu glauben, dass die von mir beschriebene Realität möglich ist. Ein Zustand des Friedens wird jedoch Propagandisten der Hoffnung, der Nähe und des Optimismus hervorbringen, die - frei von Ideologie - ein tatsächliches Interesse haben, immer mehr Verbindungen zu den Angehörigen des jeweils anderen Volkes zu knüpfen. Vielleicht wird einst, nach Jahren, sich auch eine tiefgehende Annäherung vollziehen, sogar Freundschaft zwischen diesen beiden Völkern entstehen. Zwischen den Menschen. Das hat es schon immer gegeben.

 

Ich bin von dieser Hoffnung ergriffen und bewahre sie, da ich mein hiesiges Leben fortsetzen will und mir den Luxus und die Bequemlichkeit, die die Verzweiflung bietet, nicht leisten kann. Die Lage ist zu verzweifelt, um sie den Verzweifelten zu überlassen; fänden wir uns mit der Verzweiflung ab, gestünden wir im Grunde ein, dass wir besiegt worden sind. Nicht auf dem Schlachtfeld, sondern als Menschen. Etwas Tiefgreifendes, das unsere Vitalität als Menschen ausgemacht hat, ist uns in dem Moment genommen, ja geraubt worden, als wir zustimmten, uns von der Verzweiflung regieren zu lassen.

 

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Wir, die wir schon sehr viele Jahre um Frieden bitten, werden aber auch weiterhin hartnäckig auf Hoffnung bestehen. Auf einer realistischen, nüchternen Hoffnung, die nicht aufgibt. Der bewusst ist, dass sie für uns - Israelis wie Palästinenser - die einzige Chance ist, um die Schwerkraft der Verzweiflung zu überwinden.

Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch.

 

David Grossman, geboren 1954, ist israelischer Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Aus der Zeit fallen“ (Carl Hanser Verlag).

 

Quelle: F.A.Z.

Hier finden Sie den Link:

http://www.faz.net/-gqz-7rdho

 

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