Die Erfahrung eines B’tselem Mitarbeiters beginnt in großer Furcht und endet mit seltenem Dialog
Es war lang nach Mitternacht. Der letzte Wagen war vor drei Stunden durchgefahren und seitdem war die Straße leer gewesen. Weder Siedler noch Palästinenser wagten zu dieser Stunde durchzufahren. Es ist als wäre freiwillige nächtliche Ausgangssperre. Es ist dunkel hier und unheimlich.
Plötzlich nähert sich ein Wagen. Die drei Soldaten am Checkpoint stehen auf.
Infanteriesoldaten und drei israelische Zivilisten wurden hier bei der letzten Intifada von einem palästinensischen Heckenschützen getötet, der sie vom Hügel jenseits des Weges erwischte. Die Soldaten, die jetzt hier sind, waren damals noch Kinder, aber sie wissen, dass es in diesen Tagen an der Schnellstraße 60 für jeden gefährlich ist.
Die Schnellstraße läuft durch das ganze Zentrum der Westbank und dieser Haramiya-Checkpoint teilt sie hier in zwei Teile. Er war einige Jahre lang besetzt. Aber jetzt ist die Armee zurück am Checkpoint, der direkt an der Hauptstraße und zwischen Ramallah und Nablus liegt – zwischen den Siedlungen Ofra und Shilo. Der Wagen nähert sich langsam. Die Soldaten machen ihre Waffen zurecht. Der Fahrer hatte Angst, auch die Soldaten – so schien es.
Abed A-Karim a-Saadi ist Mitarbeiter von B’tselem der nördlichen Westbank: dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Ein 52Jähriger Vater von vier Kindern lebt noch im selben Dorf – Atil, nördlich von Tul Karem - wo er geboren wurde. Er hat ein Diplom in Psychologie von der An-Najah-National-Universität in Nablus und ist einfühlsam und sozial. Seine berufliche Karriere wird durch Zusammenarbeit mit Israelis und Palästinensern gekennzeichnet. Er arbeitet für die palästinensische Behörde im Distrikt –Büro als Verbindungsmann mit Israel an der Allenby-Brücke in palästinensischen und internationalen Menschenrechts-Organisationen und in den letzten zehn Jahren hat er mit B’tselem zusammengearbeitet.
Saadi ist einer der seltenen und gefährdeten: ein Palästinenser, der noch nie verhaftet gewesen war. Letzte Woche entschied er sich, nach Ramallah zu gehen, um ein Theater-Stück anzusehen. Die Ereignisse dieser Nacht, die er – noch immer sehr bewegt - uns lebendig erzählte, sind eine kleine Geschichte der Westbank-Routine, ohne Blut oder Gewalt, doch mit einer Moral.
Am Dienstagmorgen untersuchte Saadi Klagen über Siedlergewalt im Raum Tulkarem. Als er am Nachmittag nach Hause kam, rief ihn ein Freund, ein deutscher Photograph und Journalist an und sagte ihm, dass er und seine Frau an diesem Abend in Ramallah sich Hamlet ansehen wollten und zwar in einer lokalen Produktion auf Englisch und dass sie dazu Saadis Sohn Osama, einen Bau-Ingenieur der Stadt einladen wollen.
Saadi hatte eine Idee. Er würde sie überraschen und sich ihnen anschließen- „ Ich dachte, ich könne damit zwei Vögel mit einem Stein treffen,“ sagte er. Denn die letzten paar Wochen hatten ihn aus Angst, auf der Straße zu fahren, gehindert, den Sohn zu besuchen und er wollte nicht unnötig nach Ramallah fahren.
Er duschte, wechselte die Kleidung, verabschiedete sich von seiner Frau und fuhr nach Ramallah. „Es ist das 1. Mal in meinen 29 Jahren Arbeit, dass ich Angst habe, auf den Hauptstraßen zu fahren,“ gab er zu. „Ich hatte nie so viel Angst - vor den Siedlern und der Armee. Es ist jetzt so leicht zu töten. Aber ich sagte zu mir selbst: Hab keine Angst“.
Nachdem er sich bei einem Taxifahrer erkundigt hat, welches die sicherste Straße sei, entschloss er sich für die Schnellstraße 60. Er kam gegen Abend nach Ramallah, traf seinen Sohn und dessen Freund und ging mit ihnen ins Theater und danach in ein Restaurant, das Ziryab. Er und das deutsche Paar waren dort bis nach Mitternacht, als die Besucher in ihr Hotel gingen. Sein Sohn war früher gegangen.
Und was sollte er jetzt tun. Saadi wollte seinem Sohn keine Umstände machen und ihn fragen, ob er bei ihm schlafen könne. Und Osama hatte kein übriges Bet. Saadis Freund in der Stadt antwortete nicht am Telefon. Sie müssen schon ins Bett gegangen sein. Er dachte daran, im Wagen zu schlafen, aber er fürchtete die palästinensische Polizei. Schließlich entschloss er sich, allen Mut zusammen zu nehmen und nach Hause zu fahren, nach Atil. Um sicher zu gehen, rief er noch einen Freund in Turmus Aya an, das auf halbem Weg liegt und bat ihn, mit ihm in Kontakt zu bleiben, um sicher zu gehen, dass alles gut gehen wird.
Er verließ Ramallah etwas nach 12 Uhr30. Die Straße war leer und bedrohlich.“ Nicht mal Hunde waren draußen – nur ich allein“ Bald kam er nach Wadi Haramiya, wo der bemannte Checkpoint war. Er fuhr sofort sehr langsam und entdeckte aus einiger Entfernung drei Soldaten. Die ihm mit Taschenlampen signalisierten, anzuhalten Er fuhr auf die rechte Seite der Straße und machte den Motor aus. Ihre Gewehre waren auf ihn gerichtet. Sie befahlen ihm, auf die andere Straßenseite zu kommen, den Motor aus zu machen und raus zu kommen.
Die nächsten 7-10 Sekunden waren die längsten in seinem Leben, sagte Saadi jetzt: „Ich sagte zu mir selbst: Dies ist der Moment, in dem sie mich töten werden. Sie werden einen Grund finden, mich zu erschießen. Es sind drei. Es gibt keine Augenzeugen; sie können immer sagen, dass ich versucht hätte, sie anzugreifen und sogar ein Messer zeigen. Keiner wird je wissen, was geschehen ist. Dann war er aber glücklich“, fügte er hinzu.
Er stieg aus dem Wagen aus und grüßte die Soldaten mit dem freundlichsten „guten Abend!“, was er unter diesen Umständen sagen konnte – er machte es uns vor. Sie sagten ihm, er solle seinen Gepäckraum öffnen. Er fühlte Erleichterung. Sie sprachen mit ihm. Das erleichterte ihn, weil es ihm gelungen war, sie zu beruhigen.“Jeder, der die Angst an den Checkpoints schon erfahren hat, weiß, dass der gefürchtetste Augenblick der ist, bevor man zu reden beginnt.
Der Verdacht der Soldaten tauchte auf, als sie eine Gasmaske im Kofferraum fanden. „Was ist das?“ fragten sie. Er zeigte seinen B’tselem-Ausweis und erklärte, dass die Außenarbeiter der Organisation zum Schutz mit einer Gasmaske fahren würden. Er erzählte den Soldaten, dass B’tselem eine Menschenrechtsorganisation sei, indem er das hebräische Wort für „Menschenrechte“ benützte. Das Gespräch wurde in drei gebrochenen Sprachen geführt: Hebräisch, Arabisch und Englisch.
Was bedeutet Menschenrechte, fragte der Offizier. „Das war für mich eine Gelegenheit, so viel wie möglich zu reden,“ erzählte Saadi. Dann begann ein Dialog, der bis tief in die Nachtd. Ein IDF-Offizier und zwei Soldaten auf der einen Seite und ein palästinensischer Zivilist auf der anderen. Die Soldaten versuchten, ihre Langeweile zu überwinden, er versuchte seine Angst zu zerstreuen. Er wusste, dass solche Gelegenheiten wie diese fast nie kommen.
Saadi erklärte dem Offizier die Bedeutung des Ausdrucks „Menschenrechte“ und erzählte ihm von der Genfer Konvention und über das Völkerrecht und das Israelische Recht. Er sagte, er sei selbst ein unpolitischer Beobachter. Die beiden Soldaten kamen näher, um zu lauschen. Sie hätten seine Söhne sein können. Zuerst sahen sie ihn ausdruckslos, ja drohend an. Aber ihr Ausdruck wurde langsam weicher. Er spürte, dass sie anfingen, Interesse zu bekommen. Dann fragte einer von ihnen, was es bedeutet, ein Shahid, ein Märtyrer zu sein.
„Das war eine schwierige Frage für mich,“ sagt Saadi. Ich fragte sie, ob sie die kurze Antwort haben wollen oder die lange. Beide, sagten sie. Die kurze Antwort war: „Wenn ihr mich jetzt erschießt, wird morgen ein Plakat erscheinen, auf dem steht: „ Abed Al-Karim a-Saadi – shahid“ Die lange Antwort: Mein Gott und euer Gott und der Gott der Christen ist derselbe Gott. Ich glaube, dass er uns geschaffen hat und dass nur er dem Leben ein Ende setzen kann. Deshalb kann nur er allein bestimmen, wer ein Shahid ist.
Die Soldaten schienen die Antwort zu mögen, dachte er. Sie fingen an, ihn mit Herr Saadi anzusprechen. Aber die nächste Frage war nicht leichter: Warum gehen eure Leute mit Messer auf uns los?
Ich fragte sie , ob sie wollen, dass ich ehrlich mit ihnen sei und sagte: „Ich möchte meine Leute nicht verteidigen, die Zivilisten oder Soldaten mit Messer angreifen; aber aus demselben Grund, kann ich euch nicht verteidigen, die ihr Palästinenser tötet; zuweilen sogar nachdem ihr sie unterworfen habt. Aber ich würde euch gerne in die Schuhe eines Palästinensers eures Alters versetzen. Stellt euch vor, ihr wäret Mohammed: Ihr seid arbeitslos, es gibt keine Möglichkeit, Arbeit zu finden, ihr habt keine Hoffnung, Soldaten sprühen euch mit Tränengas an , manchmal sogar ins Haus“
„Was würdet ihr tun – die Soldaten küssen? Sie lieben? Gestern wurde einer getötet, der vor zwei Tagen an einer Beerdigung eines andern jungen Mannes teilgenommen hat und er sah, wie er geehrt wurde. Und der wahrscheinlich heute getötet wurde, wird morgen beerdigt. Was erwartet ihr von einer jungen Person wie dieser, die nichts hat?“
Sie sagten ihm, dass seit 9 Uhr kein Wagen durch den Checkpoint durchgefahren sei und fragten ihn, wie er es gewagt hätte, hier durchzufahren: „Du bist nicht der einzige, der Angst hat – auch wir haben Angst“, gaben sie zu. Das Gespräch ging noch bis halb drei. Dann geschah etwas Ungewöhnliches: Saadi sagt etwas, das nie vorher geschehen war. Die Soldaten verabschiedeten sich mit Händedruck.
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich in ihnen etwas zerbrochen. Es war ein starkes Händeschütteln. Ich sagte ihnen, dass sie genauso wie ich Opfer seien: Ich bin ein Opfer der Besatzung und sie seien Opfer ihrer Regierung, dass der Trennungszaun nicht nur dafür da sei, uns physisch zu trennen, sondern auch unsere und ihre Gemüter.
Sie wussten das erste nicht von uns – nur dass wir Leute mit Messern stechen und uns selbst in die Luft jagen.“
Danach entschied Saadi, nicht in sein Dorf zu gehen, weil man nicht zweimal in einer Nacht glücklich sein kann. Er rief seinen Freund in Turmus Aya an und ging zu ihm. Sie gingen auf das Dach, tranken eine Tasse Kaffee, rauchten Zigaretten und sprachen und sprachen über den seltsamen Vorfall, den Abed al-Karim a-Saadi am Haramiya-Checkpoint mitten in der Nacht hatte.
(dt. Ellen Rohlfs)
< Die führungslose Welt