Die palästinensische Hamas hat jüngst ein neues politisches Programm veröffentlicht. Ihre Israel-Feindschaft bleibt unverändert, neu ist aber der Bruch mit der ägyptischen Muslimbruderschaft.
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 mit dem Ziel gegründet, die verwestlichte ägyptische Gesellschaft zu reislamisieren. Ihr Gründer, der Lehrer Hassan al-Banna, entdeckte schon bald das Thema Palästina für sich. Als der dortige Konflikt zwischen Arabern und Juden in Gewalt umschlug, erkannten al-Banna und seine Anhänger schnell, dass sie daraus politisch Kapital schlagen könnten. Schon in den 1930er Jahren riefen sie zum Jihad gegen die Juden in Palästina auf – nicht selten mit Kampfparolen, die noch radikaler klangen als diejenigen der militanten palästinensischen Araber.
In den Jahren 1945/46 begann die Muslimbruderschaft Aktivistenzellen in Palästina aufzubauen. Dass Gaza dabei eine wichtige Ausgangsbasis gewesen sei, wurde von der Hamas, die dort seit ihrem Militärputsch gegen die säkulare palästinensische Fatah seit 2007 allein herrscht, schon immer gerne behauptet. Und ebenso, dass Freiwilligeneinheiten der ägyptischen Muslimbrüder im israelisch-arabischen Krieg von 1948 im Gazastreifen tapfer gekämpft hätten. Die Glorifizierung (und Übertreibung) dieser Kriegsbeteiligung war seit dem Krieg Teil der Selbstdarstellung sowohl der ägyptischen als auch der palästinensischen Islamisten.
Die ägyptische Muslimbruderschaft, die für den Krieg gegen den neugegründeten israelischen Staat von den Machthabern in Kairo instrumentalisiert worden war, war diesen allerdings wegen ihrer Machtaspirationen zugleich auch suspekt. Schon Ende 1948 wurde deshalb die Organisation von der ägyptischen Regierung verboten.
Während die Muslimbrüder im ägyptischen Kernland hart verfolgt wurden, konnten sie im nach dem Krieg von Ägypten besetzten Gazastreifen teilweise offen, wenn auch nicht frei, agieren. Die Ägypter mussten dort eine schnell wachsende Bevölkerung kontrollieren, die jetzt grösstenteils aus palästinensischen Kriegsflüchtlingen bestand – im Gazastreifen, in dem bis dahin nur etwa 90 000 Menschen gelebt hatten, hatten nun rund 200 000 von den Israeli vertriebene Palästinenser Zuflucht gefunden. Für Kairo erwies es sich als nützlich, ihre antiisraelischen Ressentiments zu schüren und einen militanten palästinensischen Nationalismus zu fördern. Dazu gehörte auch die Bewaffnung von Milizionären, die Anschläge gegen israelische Siedlungen verübten. Solange die im Gazastreifen agierenden Muslimbrüder diesen Kurs unterstützten, liess Kairo sie auch gewähren.
Ähnliches geschah, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen, als die Israeli im Sechstagekrieg 1967 Gaza eroberten. Die israelischen Besatzer hatten den säkularen palästinensischen Widerstand als ihren hartnäckigsten Gegner markiert, der nun von Yasir Arafats Fatah geführt wurde. Die israelische Armee begnügte sich aber nicht damit, die Fatah und andere linksorientierte Kampforganisationen aus den Reihen der palästinensischen Befreiungsbewegung PLO zu bekämpfen, sondern versuchte, die Bevölkerung gegen sie aufzubringen. Dabei setzte man auf ihre Gegenspieler im religiösen Lager und gewährte ihnen Freiheiten – in der Erwartung, dass die Beschäftigung mit dem Koran und ihre Frömmigkeit sie vom Terror abhalten würden. Diesen Vorteil nutzte Ahmed Yassin, der Anführer der palästinensischen Muslimbrüder in Gaza, um seine Organisation auszubauen. Wie viele seiner Anhänger entstammte er einer Familie von Flüchtlingen aus dem Süden Palästinas, die 1948 in den Gazastreifen geflohen waren und meist in den Flüchtlingslagern lebten. Bei ihnen fielen die alten Aufrufe des 1949 in Ägypten ermordeten Hassan al-Banna zum heiligen Krieg für die Befreiung des islamischen Palästina auf besonders fruchtbaren Boden – schliesslich handelte es sich um ihre Heimat, die sie hatten verlassen müssen.
Wie sehr diese Palästinenser, was die Israeli offenbar unterschätzt hatten, al-Bannas militante Botschaften verinnerlicht hatten, wurde beim Ausbruch der ersten Intifada Ende 1987 deutlich, als sich die palästinensischen Muslimbrüder in Islamische Widerstandsbewegung (Akronym: Hamas) umbenannten und schon bald ihre Gründungscharta veröffentlichten. Die Handschrift al-Bannas ist darin fast allgegenwärtig. So wird er schon eingangs mit der Aussage zitiert: «Israel wird bestehen und so lange bestehen bleiben, bis der Islam es annulliert, so wie er davor Bestehendes annulliert hat.» Auf das uneingeschränkte Bekenntnis der Autoren zum Islam folgt gleich in Artikel 2 die Bemerkung, dass die Hamas ein Zweig der international wirkenden Muslimbruderschaft sei. Es werden immer wieder Verse aus dem Koran zitiert und an die Pflicht eines jeden Muslims gemahnt, in den Jihad zu ziehen.
All dies erinnert so sehr an die Rhetorik al-Bannas, dass sich der Eindruck aufdrängt, mangels eines bis dahin ausformulierten Programms – und um die historische Stunde des palästinensischen Widerstands nicht ungenutzt verstreichen zu lassen – seien damals seine Äusserungen eiligst auf die Aktualität zugeschnitten und um palästinensisch-nationalistische Parolen ergänzt worden. Dass die Hamas eine «palästinensische» Bewegung ist, wird überhaupt erst in Artikel 6 konstatiert.
Die Hamas sah sich damals freilich als Teil einer globalen islamistischen Bewegung, die aus ihrer Sicht im Aufwind war. Tatsächlich hatte in Ägypten in den achtziger Jahren Präsident Hosni Mubarak, was die Muslimbrüder anbetraf, die Zügel gelockert, um seine Popularität zu steigern. In Jordanien herrschte ein ähnlicher Trend, und in Libanon wuchs der Einfluss der proiranischen Schiitenmiliz Hizbullah und damit auch derjenige Teherans, das die Hamas bald als Verbündeten gewinnen sollte.
Das kompromisslose Beharren auf dem bewaffneten Widerstand mit dem Ziel der Vernichtung Israels zahlte sich für die palästinensischen Islamisten langfristig aus. 2006 wurden sie bei den Wahlen im palästinensischen Autonomiegebiet stärkste Kraft, im Jahr darauf vertrieben sie die Fatah aus dem Gazastreifen und installierten dort ihre eigene Version eines islamischen Staatswesens. 2012 schien für die Hamas ein neues Zeitalter anzubrechen: In Ägypten kamen die Muslimbrüder an die Macht, in Tunesien die Gesinnungsgenossen aus der Ennahda. Doch der Aufbruch währte nur kurz. Schon ein Jahr später wurde die ägyptische Mursi-Regierung durch Armeechef Abdelfatah al-Sisi gestürzt und die Muslimbruderschaft zerschlagen. Ihre palästinensische Schwesterorganisation erklärte der nun als Präsident amtierende al-Sisi zum Feind, und er liess den Gazastreifen von der ägyptischen Seite aus – ähnlich wie dies Israel seinerseits tut – abriegeln.
Die Hamas stand jetzt mit dem Rücken zur Wand. Hierzulande wurde kaum registriert, dass ihre Kader bereits im Januar dieses Jahres in Kairo gegenüber Vertretern der dortigen Regierung schriftlich erklären mussten, sich nicht in innerägyptische Angelegenheiten einzumischen. Und das bedeutet nicht weniger, als dass die Hamas nun der brutalen und unerbittlichen Verfolgung ihrer Mutterorganisation kommentarlos zusehen muss. Die Gegenleistung – die existenziell wichtige Lockerung der ägyptischen Blockade – hat sich die palästinensische Islamisten-Organisation, wie es scheint, wohl noch teurer erkaufen müssen. In ihrem Anfang Mai veröffentlichten politischen Grundsatzpapier, das erste seiner Art seit 1988, fehlt nicht nur von ihrem ägyptischen Ursprung jede Spur, sondern auch vom früher allgegenwärtigen Begriff Jihad – und selbst Koranzitate sucht man hier vergebens.
Wie im Fall ihrer Gründungscharta scheint auch jetzt der ägyptische Einfluss die Semantik zu bestimmen, diesmal jedoch in umgekehrter Richtung: Durch die Lossagung von den Muslimbrüdern stellt die Hamas keinen Widersacher des Kairoer Regimes mehr dar. Eine reale Bedrohung bleibt sie aber für ihre Gegner Israel und die Fatah allemal – durch ihren unveränderten Anspruch auf das ganze Gebiet des historischen Palästina.
Joseph Croitoru ist Historiker, Journalist und Autor von «Hamas. Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat» (2010).
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