Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
in Ihrer Rede zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer haben Sie gesagt, dass dieses Ereignis auch für Länder wie Syrien, Irak und die Ukraine Bedeutung habe.
Im Mai 2014 hatte ich bei einer Reise mit einer IPPNW/Pax Christi erneut Gelegenheit, die Mauer in Jerusalem zu sehen, zu erleben und mit Betroffenen zu sprechen. Es ist für mich sehr befremdlich, dass Sie zwar über die Situation in Syrien, Irak und in der Ukraine sprachen, aber zum 25. Jahrestag des Mauerfalls ausgerechnet die Mauer von Jerusalem mit keinem Wort erwähnten.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat in einem Gutachten vom 9.7. 2004 festgestellt, dass die von Israel errichtete Sperranlage und Trennmauer der Vierten Genfer Konvention widerspricht, weil sie größtenteils auf palästinensischem Gebiet steht. Man stelle sich nur vor, die DDR hätte 1961 die Mauer auf Westberliner Gebiet gebaut.
Die Menschen in der DDR mussten 40 Jahre Diktatur ertragen. Die Palästinenser müssen seit 47 Jahren willkürliches Militärrecht einer Besatzungsmacht mit vielfältigen Schikanen über sich ergehen lassen, wie ich bei meinen Besuchen in der Westbank selber sehen konnte.
Mehrere israelische Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder darüber:
B’Tselem, Machsom Watch, Women in Black, Israeli Comitee against House Demolitions (ICAHD), Rabbis for Human Rights, Physicians for Human Rights usw.
Der UN-Menschenrechtsrat hat in seinem Bericht vom März 2013 die vielfältigen Missstände angesprochen. Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, hat entgegen den sonstigen diplomatischen Gepflogenheiten des IKRK offen die Menschenrechtsverletzungen durch Israels Besatzungs- und Enteignungspolitik angeprangert. Die UN-Organisation OCHA OPT berichtet wöchentlich und monatlich darüber, doch die Bundesregierung schweigt – aus Gründen der Staatsräson.
Daniel Barenboim, gewiss über jeden Vorwurf des Antisemitismus erhaben, hat in einem Artikel zum Fall der Mauer in der Süddeutschen Zeitung vom 8.11. 2014 die Bundesregierung aufgefordert, endlich Druck auf Israel auszuüben, damit die Palästinenser selbstbestimmt und in Freiheit leben können.
Für die Menschen muslimischen und christlichen Glaubens in Palästina (vgl. ökumenische Kairos-Palästina-Erklärung von 2009) klingen Worte wie Freiheit, Bürgerrechte, Menschenrechte, Reisefreiheit hohl, solange ihnen der Staat Israel, der mit Deutschland in vielfältiger Weise ökonomisch, politisch, militärisch, wissenschaftlich und kulturell kooperiert, solche Freiheiten und Rechte vorenthält - mit stillschweigender Duldung Deutschlands und der anderen westlichen Länder.
Auch in den anderen islamischen Ländern weiß man um die Einseitigkeit und Unaufrichtigkeit der deutschen und der westlichen Politik im Blick auf Israel. Das Virus eines fanatischen Islamismus wird sich weiter ausbreiten, solange sich Deutschland und der Westen einerseits verbal zu Freiheit und Menschenrechten bekennen, aber zugleich hinnehmen, dass Israel Freiheit und Menschenrechte den Palästinensern verweigert.
Es ist Bischof Desmond Tutu zuzustimmen: „Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.“
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Martin Breidert
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