Sie hatten gemeinsam am Trauermarsch für die ermordete Jüdin Mireille Knoll teilgenommen. In ihrem Kommentar zitierte die streitbare Publizistin Elisabeth Lévy, Herausgeberin der Zeitschrift „Causeur“, ihren Mitstreiter – und regelmäßigen Autor – Alain Finkielkraut. Ihm verdanken wir die beste Definition der politischen Korrektheit: „Nicht sehen wollen, was zu sehen ist“, den Blick von der unerträglichen Wirklichkeit abwenden, der Wahrheit nicht ins Auge schauen, aus Mutlosigkeit oder irgendwelchen Rücksichten.
Genau diese Verweigerung macht Elisabeth Lévy in der Berichterstattung von „Le Monde“ aus. Die Zeitung hatte die Morde an Juden und die gegen Juden gerichteten Terrorangriffe, welche dem Verbrechen an Mireille Knoll vorausgegangen waren, säuberlich aufgelistet. Auch den Antisemitismus als Motiv verschwieg sie nicht. Seine Herkunft aber habe „Le Monde“ systematisch ausgeblendet: „Für ‚Le Monde‘ kommen die Antisemiten vom Mars“ – und nicht aus den Vorstädten in den Banlieues. Auch jeglicher Bezug zum Islam scheint für die Zeitung tabu zu sein.
Der Jüdische Zentralrat hatte die Teilnahme von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon am Trauermarsch als unerwünscht erklärt. Unter Pfiffen und Beschimpfungen mussten sie als links- und rechtsextreme „ideologische Anstifter“ des Antisemitismus den Umzug verlassen. Ähnliche Töne schlägt Elisabeth Lévy gegenüber „Le Monde“ an. Wenn es mit der Realitätsverweigerung so weitergehe, würden dereinst auch „Journalisten von Demonstrationen gegen den Antisemitismus ausgeschlossen“.
Seit der zweiten Intifada und dem 11. September 2001, nach dem Frankreich mit seinen acht Millionen Muslimen und rund 600000 Juden zum Nebenschauplatz des Nahost-Konflikts wurde, kam es zu Anschlägen auf Synagogen und jüdische Schulen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte Elisabeth Badinter in „L’Express“ einen Aufruf zum Handeln gegen den neuen Antisemitismus aus den Banlieues. „Lasst die Juden nicht allein“ forderte sie in einem Interview mit dieser Zeitung (F.A.Z. vom 19. Oktober 2017). Ihr Appell war ein verzweifelter Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die französische Öffentlichkeit – mitten im Wahlkampf – auf die Ermordung der jüdischen Französin Sarah Halimi reagiert hatte.
Er sollte nicht folgenlos bleiben: Am Schweigemarsch für die Ende März ermordete 85 Jahre alte Mireille Knoll, die 1942 im besetzten Paris der großen Judenrazzia entkommen konnte und später einen Auschwitz-Überlebenden heiratete, nahmen zahlreiche Intellektuelle und Politiker teil. Mireille Knoll wurde wie Sarah Halimi und vor ein paar Jahren Ilan Halimi gefoltert und ermordet, weil sie jüdisch war und die Täter davon ausgingen, dass bei den Opfern viel Geld zu finden sei. Am gleichen Tag, an dem Mireille Knoll in Paris mit elf Messerstichen getötet und ihre Sozialbauwohnung in Brand gesteckt wurde, kam es in Südfrankreich zum schlimmsten Attentat seit der Wahl von Emmanuel Macron. Bei der Geiselnahme im Supermarkt gab sich der Polizist Arnaud Beltrame in die Gewalt der Entführer, er erreichte damit die Freilassung einer Frau. Als er dann versuchte, den Terroristen zu überwältigen, wurde er von diesem tödlich mit einem Messer verletzt.
Nun ehrte die Republik Arnaud Beltrame mit einer „Hommage national“ im Invalidendom. Macron hielt die Totenrede, würdigte das Heldentum des Verstorbenen – und sprach vom „unterirdischen Islamismus“ als Matrix des Terrorismus. So deutliche Worte hatte kein Präsident vor ihm und auch Macron selbst bis dahin nicht gefunden. Über die Osterfeiertage wurde Arnaud Beltrame von den Medien als Märtyrer gewürdigt, kein Magazin ohne ihm gewidmete Titelgeschichte: „Ein französischer Held“ titelte die Illustrierte „Paris Match“, „Was ist ein Held?“ lautete die Überschrift von „L’Obs“.
Auch Alain Finkielkraut hat sich diese Frage gestellt. Er gehörte zu den Intellektuellen, die angesichts des Terrors bedauerten, dass in Frankreich niemand für die Verteidigung freiheitlicher Werte zu sterben bereit sei. In einem Interview, das er dem „Figaro“ gewährte, vergleicht er Arnaud Beltrame mit Maximilian Kolbe in Auschwitz. Als Held, so Finkielkraut, habe der Philosoph Emmanuel Levinas einen Menschen definiert, der bereit ist, sich selbst aufzugeben und für einen anderen Menschen zu sterben.
Mit seinem Verhalten beendet Beltrame in Finkielkrauts Deutung die herrschende „nihilistische Konfusion“: Das Opfer des Polizisten hat nichts mit der Verachtung der Terroristen gemein, die ihr Leben wegwerfen, um möglichst viele Leben von Ungläubigen auszulöschen: „Märtyrer ist nicht gleich Märtyrer“. Die Anschläge haben Frankreich abermals erschüttert: „Aber zum ersten Mal in der blutigen Geschichte des islamischen Terrors in Frankreich weicht das Entsetzen der Bewunderung. Keiner hat den Namen des Terroristen im Kopf, jener des Retters (sauveur) hingegen ist im nationalen Gedächtnis festgeschrieben. Das ist noch nicht das Ende des Kriegs, aber ein erster Sieg.“
Alain Finkielkrauts Hoffnung stützt sich auf Macrons Rede. Noch im Wahlkampf hatte der Philosoph dem Kandidaten misstraut. Er hielt ihn für viel zu nachsichtig und naiv im Umgang mit den „Kindern der postkolonialen Immigration“. Viel zu lange habe Macron die islamische Radikalisierung und Gefahr als Ausdruck der sozialen Zustände verniedlicht. Anlässlich der Trauerfeier für Arnaud Beltram aber habe er nun erstmals „den Feind beim Namen genannt“ und „die Verantwortung für die Gewalt nicht auf die Gesellschaft abgewälzt“.
Finkielkraut sieht erstmals Anlass zu Zuversicht: „Vielleicht geht die Zeit der Realitätsverweigerung und Blindheit zu Ende.“ Auch im Schweigemarsch für Mireille Knoll erkennt er Anzeichen einer Bewusstseinsbildung: „Ich dachte, dass nach Hitler und Auschwitz der Antisemitismus für immer diskreditiert sei. Doch ein neuer Antisemitismus löst den alten ab und will sein Werk vollenden. Massenhaft verlassen die Juden ihre Wohnstätten in den Pariser Banlieues und ziehen um, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Aber etwas tröstet mich: Als Ilan Halimi ermordet wurde, protestierten wir allein. Beim Trauermarsch für Mireille Knoll waren die Juden nicht mehr allein.“
Außerdem kritisiert Finkielkraut den Ausschluss von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon von der Demonstration, geht hart mit dem Jüdischen Zentralrat ins Gericht: „Ist es ihm lieber, wenn der Front National ‚Tod den Juden‘ schreit und die extreme Linke die Demonstration als ‚zionistisch‘ bezeichnet?“ Der Antisemitismus ist kein Problem der Juden: „Und es ist nicht an den Juden, die Einmütigkeit im Kampf gegen die Barbarei, die sie bedroht, zu stören.“
< Initiative kulturelle Integration: Aiman Mazyek & Hans Jessen