Benjamin Netanjahu ist vor allem eins: ein Machtmensch, und er hat vor allem ein Ziel: an der Macht zu bleiben.
Jahrelang konnte Netanjahu gefahrlos auch im eigenen Lager eine Zwei-Staaten-Lösung propagieren, solange er konsequent die schleichende Annektierung der besetzten Palästinensergebiete betrieb. Durch immer neue Siedlungen für die religiös-nationalistischen Juden, durch immer neue Schikanen für die Palästinenser, deren Alltag voller Drangsal ist, ausgesetzt der Gewalt der Siedler und der Willkür 19 Jahre alter Soldaten an Hunderten von Checkpoints. Jeder wusste: Es wird ja doch nichts mit dem Frieden.
Nun reiben sich viele die Augen. Kann es sein, dass "Bibi" doch den Ausgleich mit den Palästinensern, dass er wirklich zwei Staaten zulassen will? Und damit den Traum vom jüdischen Groß-Israel mit Jerusalem, Judäa und Samaria - das ist die heutige Westbank - für immer zerstören würde? Die meisten Israelis sind für diese Lösung, aber dieselben Israelis sind zugleich skeptisch. Sie glauben nicht, dass es tatsächlich dazu kommt. Zu Recht - Netanjahus Likud-Partei wird das niemals zulassen, er müsste sich neue Mehrheiten suchen. Netanjahu ist kein Friedensengel, er ist ein Getriebener. Die Zeit läuft ihm davon. Nicht die iranische Atombombe ist Israels größter Feind, die größte Gefahr für den jüdischen Staat ist die Demographie. Die Rechnung ist einfach: Die Bevölkerung in den Palästinensergebieten ist in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent auf mehr als vier Millionen Menschen gewachsen, dazu kommen 1,2 Millionen israelische Araber. Ihnen stehen rund sechs Millionen jüdische Israelis gegenüber. Geht es so weiter, gibt es keine zwei Staaten, dann sind die Juden in diesem Gebiet demnächst in der Minderheit. Deshalb gibt es gerade bei den Palästinensern zunehmend Stimmen, die sagen: Wozu zwei Staaten? Lasst uns zusammenbleiben, und wenn ihr Juden weiterhin Demokraten sein wollt, ist doch klar, wer hier bald das Sagen hat.
Dazu kommt Israels innere Verfassung. Die sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Konflikte sind aufgebrochen. Nein, Netanjahu hat keine Zeit mehr, er muss handeln, zumal der Staat der Juden so isoliert ist wie nie zuvor. Barack Obama, mit dem ihn eine wechselseitige tiefe Abneigung verbindet, hat ihm in seiner zweiten Amtszeit die Daumenschrauben angesetzt. Wieder steht der Herbst vor der Tür - und damit die Vollversammlung der Vereinten Nationen, mit der Gefahr neuer "Palästina-Festspiele". Die vorige war für Israel ein Desaster: Die überwältigende Mehrheit in der UN stimmte für einen Beobachterstatus für Palästina, eine Aufwertung, die Netanjahu unter allen Umständen vermeiden wollte und deren Fortsetzung er fürchtet. Deutschland enthielt sich der Stimme, was politisch einem Ja gleichkam - ein absolutes Novum. Ein Wutausbruch bei Bibi und, aus Rache, die Genehmigung für 3000 Siedlerwohnungen waren die Folge.
Israels zweitbester Freund, ein Verräter! Unerhört! Nicht nur diese Episode zeigt jedoch: Internationaler Druck funktioniert. Israel steht mit dem Rücken zur Wand. Aber die Frage ist: Dürfen wir Deutschen das? Ausgerechnet wir, deren Kanzlerin Angela Merkel die Sicherheit Israels doch zur Staatsräson erhoben hat?
Ja, wir dürfen nicht nur, wir müssen sogar. Gerade weil Deutschland durch den Holocaust untrennbar mit dem Staat der Juden verbunden ist, dürfen wir uns nicht länger wegducken. Wer sich für Israel verantwortlich fühlt, der muss nun den Druck erhöhen, auch durch die EU. Deutschland steht seit über 60 Jahren für Israels Sicherheit ein, erst mit Milliarden an Wiedergutmachungszahlungen, mit geheimen und offenen Waffenlieferungen, mit einer intensiven Zusammenarbeit der Geheimdienste und der Rüstungsindustrie. Die deutschen Dolphin-U-Boote sind ein wichtiger Beitrag zu Israels atomarer Abschreckung. Das soll so bleiben. Und wir müssen bereit sein, einen Schritt weiter zu gehen.
Es brennt rund um Israel, und die israelische Politik wird es niemals zulassen, egal wie eine Friedenslösung aussieht, dass die Palästinenser die Sicherheit im Jordantal übernehmen. Eine internationale Schutztruppe wäre die Lösung. Und dann muss das einst Undenkbare denkbar werden: deutsche Soldaten an der Grenze Israels. Zum Schutz des Staates der Juden. Das wäre gelebte Staatsräson, und das wäre richtig so.
Der Artikel erschien am 18.08.2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf Seite 9.
< Ein Angriff ist kein Angriff