Die Lage im Irak ist dramatisch. Islamisten kündigen einen Marsch auf Bagdad an. Politikwissenschaftler Jochen Hippler glaubt aber, dass sich in schiitischen Mehrheitsgebieten kurdische Streitkräfte, die Peschmerga, schiitische Milizen und ein Teil der Bevölkerung diesen dschihadistischen Extremisten entgegenstellen wird.
Christoph Heinemann: Im Irak stehen die Rebellen zirka 80 Kilometer vor der Hauptstadt. Und wie reagiert die Regierung? Ministerpräsident al-Malikis Versuch, den Notstand auszurufen, scheiterte am Parlament, das eine Abstimmung wegen mangelnder Beteiligung verschob. US-Präsident Obama kündigte unterdessen militärische Optionen, darunter auch mögliche Luftschläge an. Darüber hat meine Kollegin Bettina Klein mit dem Politikwissenschaftler Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen gesprochen und ihn gefragt, wie weit die USA dieses Mal gehen werden.
Jochen Hippler: Drohneneinsätze finden relativ breit ja ohnehin statt in verschiedenen Ländern, einschließlich Libyen, Pakistan, Afghanistan und so weiter. Das ist sicher eine naheliegende Option. Waffenlieferungen, Ausbildung dauert ein bisschen was, bis es wirksam ist. Ich könnte mir dann, wenn das weiter eskalieren sollte, durchaus auch noch Luftangriffe vorstellen. Das wird es aber sein. Beides oder alles drei ist nicht geeignet, den Konflikt unter Kontrolle zu bringen, weil es letztlich nicht ein politisches Problem ist, sondern dass der irakische Staat sozusagen wegschmilzt, und da kann man Waffen liefern oder auch nicht, dieser Prozess muss gestoppt werden.
Bettina Klein: Das heißt, Sie würden vorschlagen und raten, dass die Vereinigten Staaten, um bei denen noch mal zu bleiben, gar nichts tun im Moment?
Hippler: Nein. Ich glaube, dass sie sicher das tun können, was jetzt Obama so verdeckt andeutet. Ich glaube nur, dass es nicht entscheidend sein wird. Ob sie das tun, oder ob sie das lassen, wird möglicherweise einen Verzögerungseffekt haben und Zeit, die man vielleicht brauchen kann, aber dieser Vormarsch jetzt von diesen extremistischen Gruppen und ISIS insbesondere ist eben einer, der nicht so sehr auf militärischen Faktoren beruht, sondern auf einer politischen Schwäche der irakischen Regierung, und da muss natürlich dann auch angesetzt werden. Dass man Zeit gewinnen kann, indem man militärisch punktuell eingreift, das mag schon sein. Das wird aber den Kurs nicht wirklich wenden.
Klein: Durch welche Schritte wäre denn die Entwicklung zu stoppen und hätte denn al-Maliki, dem ja ein Gutteil der Schuld an der ganzen Situation gegeben wird, überhaupt noch die Macht oder die Möglichkeit, daran etwas zu ändern?
Hippler: Ich glaube, dass tatsächlich Ministerpräsident Maliki die Hauptschuld hat. 2009, 2010, auch noch 2011 sah die Lage relativ gut aus. Das Gewaltniveau ist nach diesem schweren Bürgerkrieg vor allen Dingen 2006/2007 deutlich herabgeführt, und da hat Maliki, statt das Land zusammenzuführen und zu versöhnen, tatsächlich eher eine persönliche Machtpolitik gemacht und die Frage von Konfessionen und ethnischen Gruppen so manipulativ eingesetzt, um seine persönliche Macht zu stärken. Das ist jetzt kurzfristig nicht rückgängig zu machen. Im Moment haben wir ja auch keine wirkliche Regierung schon gebildet nach der letzten Wahl und es deutet eher was darauf hin, dass ein Ausweg aus der Krise eher ohne Maliki als durch ihn erfolgen wird müssen.
Klein: Notstandsgesetze wurden heute abgelehnt vom Parlament. Was wäre denn realistischerweise noch im Augenblick konkret zu tun von denjenigen, die im Augenblick an der Macht sind?
Hippler: Sie müssen versuchen, soweit das noch möglich ist, die Selbstauflösung der Sicherheitsapparate und des irakischen Staates zu stoppen. Ich meine, diese ISIS-Kämpfer sind ja militärisch keine überwältigende Macht, sondern eher von begrenzter militärischer und personeller Kraft, und das Vordringen liegt natürlich darin, dass viele irakischen Truppen einfach die Uniform ausgezogen, die Gewehre weggeworfen und weggelaufen sind. Das heißt, da löst sich teilweise, was die USA versuchten, aufzubauen in der Besatzungszeit und kurz danach, jetzt wirklich in der ersten schweren Belastungskrise auf. Diese Tendenz zu stoppen, ist halt eine politische und nicht so sehr eine militärisch-technische Frage, und darauf kommt es jetzt aber an. Wenn der irakische Staatsapparat zusammenbleibt und diesen Angreifern entgegentritt, haben die keine Chance für einen Sieg. Wenn aber tatsächlich der Zerfallsprozess des Staates sich fortsetzt, dann ist die Lage völlig fließend.
Klein: Und was dann?
Hippler: Wenn die tatsächlich auf Kirkuk und Bagdad vormarschieren, dann wird dieser Durchmarsch zu Ende sein, weil der ja nur gelungen hat in den sunnitischen Gebieten im Westen des Landes, wo Maliki sich wirklich verhasst gemacht hat und als das größere Übel zwischen diesen beiden Übeln wahrgenommen wird. Das heißt aber nicht, dass das in kurdischen Gebieten oder dass in schiitischen Mehrheitsgebieten so sein wird, sondern da können wir mit großer Sicherheit damit rechnen, dass die kurdischen Streitkräfte, die Peschmerga, dass die schiitischen Milizen und dass auch ein Teil der Bevölkerung sich diesen dschihadistischen Extremisten entgegenstellen wird. Und kompliziert wird es natürlich in Bagdad theoretisch, wenn das alles so weitergehen würde, weil das durchaus gemischtes Gebiet ist und da die Siedlungsgebiete nicht immer klar getrennt sind.
Heinemann: Der Politikwissenschaftler Jochen Hippler. Die Fragen stellte meine Kollegin Bettina Klein.
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Das vollständige Interview finden Sie hier.
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