Die Terrorgruppe ISIS („Islamischer Staat im Irak und in Syrien“) will einen islamischen sunnitischen Gottesstaat Irak/Syrien errichten. Halten Sie das für möglich?
Dieser Staat existiert ja zum Teil schon. Und zwar unter der Führung eines unheimlichen Mannes, den die Amerikaner inzwischen zum gefährlichsten Mann der Welt erklärt haben: Abu Bakr Al-Bagdadi. Er hat in Syrien östlich des Euphrat sowie im Westen und Norden des Irak ein zusammenhängendes Gebiet unter Kontrolle gebracht.
Wie konnte die ISIS so stark werden und sich militärisch so gut formieren?
Scholl-Latour: Weil sie auch von außen enorm unterstützt worden ist. Der Westen und auch die Türkei haben den Wahnsinn begangen, vorschnell die Aufständischen in Syrien zu unterstützen. Die Amerikaner wollten die relativ liberale Freie syrische Armee aufrüsten. Sie bedachten nicht, dass islamistischere Kräfte, die ihre Kampferfahrung auch in Afghanistan und im Kaukasus gesammelt hatten, diese „Freie Armee“ an die Wand drücken und ihr die Waffen abnehmen könnte. Wir erleben das jetzt wieder in Mossul, wo von den USA an die irakische Regierungsarmee gelieferte Waffen nun den Dschihadisten in die Arme fallen.
Woher kommen die Kämpfer des Isis?
Scholl-Latour: Al Bagdadi verfügt über etwa 15.000 Männer, von denen nur ein geringer Teil aus dem Irak und aus Syrien stammt. Es handelt sich überwiegend um zugewanderte Dschihadisten aus dem Kaukasus, aus Ägypten, Pakistan und vielen anderen Ländern der arabischen Welt. Auch aus Saudi-Arabien, das mit vielen dieser radikalen Gruppen konform geht und mehrfach verhindert hat, dass moderatere Formen des Islam zum Zuge kommen.
Wer finanziert die Isis-Terroristen?
Scholl-Latour: Die Emirate am Persischen Golf und die Petro-Staaten, die ja vom Westen so sehr gehätschelt werden.
Sind das die einzigen Isis-Geldquellen?
Scholl-Latour: Nein, die Terroristen sind Meister in der Geldbeschaffung. Unter anderem durch Überfälle, Plünderungen und Erpressungen.
Wie groß ist die Auswirkung der Kämpfe auf die kurdischen Gebiete?
Scholl-Latour: Das ist ein gewaltiges Problem. Die Türkei befindet sich in einer misslichen Lage. Ihre Grenze zu Syrien und auch zum Irak ist praktisch völlig offen ...
... was die Menschen zur Flucht und Terroristen zur Einreise nutzen.
Scholl-Latour: Ja, sie reisen auch aus Europa über Istanbul in die Region und suchen dort ihre Kampfgruppen auf. Die Türkei hat nun das Problem, zur Befreiung von in Mossul festgehaltenen Geiseln auf die kurdischen Peschmerga-Kämpfer angewiesen zu sein. Die Kurden wiederum sind in der Türkei ein unsicheres Element.
Die Türkei denkt bereits an ein militärisches Eingreifen. Wäre das sinnvoll?
Scholl-Latour: Durchaus. Aber damit ist ein neuer Konflikt mit den Kurden unausweichlich. Im Norden Syriens siedeln ja auch Kurden, und die würden ein Eingreifen der Türkei, das auch ihr Gebiet berühren würde, nicht begrüßen.
Wie sieht es denn mit der autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak aus?
Scholl-Latour: Diese inzwischen blühende Region würde zusammenbrechen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Peschmerga das gewaltige Erdöl-Zentrum von Kirkuk, das auf ihrem Gebiet liegt, besetzt haben. Kurz, es wird nahezu alles über den Haufen geworfen. Sogar die Amerikaner überlegen inzwischen, ob sie mit Bombenangriffen zugunsten der irakischen Regierungsarmee eingreifen sollen.
Ist ein erneutes US-Eingreifen, wenn auch indirekt, denn vorstellbar?
Scholl-Latour: Die USA werden sicher nicht mit Bodentruppen dort auftauchen. Das würde der neuen und vorsichtigen Strategie ihres Präsidenten widersprechen. Obama hält, endlich, überstürztes Eingreifen für gefährlicher als zögerliches Abwarten. Luftschläge aber sind möglich, vor allem, wenn die Isis-Kämpfer versuchen werden, Bagdad zu erobern.
Wie reagiert der Iran auf die schweren Kämpfe im Nachbarland?
Scholl-Latour: Das ist faszinierend, denn wir erleben nun eine Interessen-Solidarität zwischen Amerikanern und Iranern. Der neue iranische Präsident Rohani hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er einen intoleranten Sunniten-Staat der Isis nicht tolerieren wird. Zumal die Schiiten im Irak die Mehrheit stellen. Außerdem hat die Isis angekündigt, die Stadt Kerbela erobern zu wollen. Also die heiligste Stadt der Schiiten überhaupt. Das wird der Iran verhindern. Wenn nötig auch militärisch.
Was bedeutet eine immer stärker werdende Isis für das Assad-Regime in Damaskus und für dessen Verbündete in Russland?
Scholl-Latour: Die Revolte gegen Assad ist von vielen Seiten unterstützt worden. Vor allem im Westen. Assad wäre gestürzt, wenn nicht Russland, der Iran und die Hisbollah im Libanon dies verhindert hätten. Das Assad-Regime war brutal und repressiv, aber es war das einzige säkulare in der gesamten islamischen Welt. Es war tolerant gegenüber Minderheiten wie den Christen. Assad war und ist, so bitter dies klingt, das kleinere Übel.
Kann die Regierung in Bagdad den Terroristen auf Dauer Paroli bieten?
Scholl-Latour: Das wird schwierig. Die Regierung al-Maliki hat den sunnitischen Teil der Bevölkerung, und das sind etwa 20 Prozent, ausgegrenzt und entmachtet. Sie sind gegen Maliki. In ihrer Mehrheit aber sind die irakischen wie die syrischen Sunniten vernünftige Menschen. Mit den Kopf-Abschneidern der Isis, die sogar El Kaida vorwerfen, ihre Ideologie sei zu gemäßigt, haben sie nichts am Hut. Diesen Leuten begegnen sie mit Horror.
Muss man mit einer Spaltung des Irak rechnen?
Scholl-Latour: Die ist faktisch so gut wie vollzogen. Wir haben Kurdistan im Norden – wo sich dank der enormen Öl-Ressourcen ein eigener Staat konstituiert hat, der mit den Peschmerga über eine eigene Armee verfügt. Dann den Irak unter Führung al-Malikis und die enorm kampfstarken Isis-Leute, die einen großen Teil des Westirak beherrschen.
Das Auftreten der Isis ist also kein Strohfeuer, sondern hat den mittleren Osten bereits verändert?
Scholl-Latour: So ist es. Ihr Auftreten lässt die gesamte US-Orientpolitik als totalen Fehlschlag erscheinen. Man muss jetzt ernsthaft analysieren, was die Amerikaner vor allem im Irak angerichtet haben, als sie den Krieg mit falschen Behauptungen ausgelöst haben. Die Entwicklung wird gefährlich, auch für uns.
Worauf muss sich Europa einstellen?
Scholl-Latour: Bisher habe ich es stets abgelehnt, von einer neuen Welle des islamischen Terrors in Europa zu sprechen. Das hat sich geändert. Jetzt haben wir ein paar tausend europäische Dschihadisten, die in Syrien gekämpft haben. Darunter auch viele Deutsche mit orientalischem Hintergrund. Das sind militärisch ausgebildete Experten. Sollte es zu Terroranschlägen kommen, so werden diese viel professioneller ausgeführt werden, als dies bisher der Fall war. Die Gefahr, dass wir bei uns ein Eindringen des Terrorismus erleben, wächst.
Was müssten die USA unternehmen?
Scholl-Latour: Die jüngsten Ereignisse werden sie wohl zwingen, sich wieder mit Russland zu verständigen und auch Putin ins Boot zu holen, um die islamistische Bedrohung gemeinsam in den Griff zu bekommen. Die Chancen stehen gut, da die Russen durch den islamistischen Terror weit mehr gefährdet sind als die USA und die Europäer.
Interview: Werner Menner
Das vollständige Interview in merkur-online finden Sie hier.
< Soldaten gegen Apfelbäume