Der Blick auf die Entwicklung in und um Syrien löst blankes Entsetzen aus. Was im Zusammenhang mit dem «arabischen Frühling» begann, befindet sich im Stadium eines Gemetzels, dessen Ende nicht absehbar ist. Verwüstete Städte und Ortschaften, zerstörte Seelen, gefolterte, verstümmelte und ermordete Menschen ohne Zahl. Dazu Flüchtlinge, vor deren Elend man reflexartig die Augen verschliesst. Nach westlicher Lesart ist der Hauptverantwortliche dieses Desasters der Diktator Bashar al-Asad, der mit eiserner Faust an seiner Macht festhält. Dazu kommen religiöse Fundamentalisten und Warlords, die in den Biotopen des Chaos und der Gewalt ihre Vorteile suchen. Aber es ist nötig, eine andere Frage zu stellen, die im Banne des Entsetzens übergangen wird: Welche Schuld trifft die Aufständischen und den Westen, der diese ermuntert hat?
Gerade wenn man den Aufständischen die besten Absichten unterstellt und ihr Ziel einer demokratischen Gesellschaft teilt, übersieht man leicht das Fragwürdige an ihrem Vorgehen. Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution wird immer wieder darüber diskutiert, ob es gerechtfertigt sei, für edle politische Ziele revolutionäre Gewalt anzuwenden. Im Wesentlichen gibt es zwei Antworten: Revolutionäre Gewalt ist gerechtfertigt, denn der gesellschaftliche Fortschritt hat seinen Preis, einen Preis, den die Geschichte fordert und der damit unvermeidbar ist. Schliesslich möchte keiner mehr in einem absolutistischen Staat leben. Die zweite Antwort lautet: nein. Diese Antwort richtet sich speziell gegen sozialistisch-kommunistische Revolutionen, die man aufgrund ihrer Gewalt als diskreditiert ansieht. Im Hinblick auf das Geschehen im Nahen Osten stellt sich die Frage der Gewalt noch einmal anders. Und zwar geht es nicht mehr allein um die Gewalt, die die Aufständischen oder Revolutionäre selbst anwenden, sondern um die Gewalt, die sie provozieren – aufseiten der Machthaber und aufseiten religiöser Fundamentalisten. Dazu kommt, dass in den von ihnen provozierten Prozess der Gewalt Bevölkerungsgruppen involviert sind, die sie nie danach gefragt haben, ob sie die Ziele ihres Umsturzversuches teilen.
Der Westen hat hier einen blinden Fleck. Er meint, dass es so etwas wie eine natürliche Drift der Geschichte zur Demokratie gebe. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ihn in diesem Glauben bestätigt, und der Politologe Francis Fukuyama hat ihm mit seiner These vom «Ende der Geschichte» dafür die zugespitzte Formulierung gegeben. Es ist eine Art Common Sense, dass Diktatoren nicht mehr in unsere Zeit passen. Wer gegen sie antritt, verdient daher Unterstützung – und sei es nur verbal. In dieser Sichtweise ist die Frage gar nicht vorgesehen, ob es Opfer geben könnte, die den erwarteten Gewinn an Selbstbestimmung und Demokratie aufzehren.
Können wir diese Frage überhaupt stellen? Man kann den Versuch machen und merkt schnell, wie unwegsam das Gelände wird, auf das man dabei gerät. Wie will man Idealisten, die mit Twitter und auf Facebook ihrer Begeisterung für die Ideale der Freiheit Ausdruck geben, vor dem, was sie vorhaben, warnen? Eine solche Warnung müsste lauten: Freiheit ist gut und recht, aber nicht hier und nicht jetzt. Denn die Widerstände und Nebenwirkungen sind unkalkulierbar und mit grösster Wahrscheinlichkeit desaströs. Wer so spricht, hat Beweislasten zu schultern, die seine eigene Glaubwürdigkeit infrage stellen. Denn wer dem Geist der Freiheit nicht zutraut, sich auch gegen die grössten Widerstände und gegen alle Wahrscheinlichkeit durchzusetzen, erscheint als kleinmütig, wenn nicht als Reaktionär oder Zyniker.
Das Ideal der Freiheit verträgt keine Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Es hat eine Dynamik, die solche rationalen Abwägungen sprengt. Immer wieder ist der Versuch gemacht worden, vor dieser Dynamik zu warnen. Edmund Burke zum Beispiel kam in seinen intensiven Auseinandersetzungen mit der Französischen Revolution zum Schluss, dass hehre Prinzipien «in dem Masse, wie sie metaphysisch wahr sind, sich moralisch und politisch als falsch erweisen».
Dafür wurde Burke heftig gescholten. Er sei ein Konservativer, hiess es. Die Geschichte werde ihn widerlegen. Wie aber steht es heute um den Versuch, die Einsprüche der Wirklichkeit gegen die politischen Ideale der Freiheit, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung zur Geltung zu bringen? Schon auf den ersten Blick lässt sich erkennen, dass sich an den überkommenen Frontverläufen nichts geändert hat. Wer vor den Schattenseiten der Ideale warnt, steht automatisch auf der falschen Seite.
Entsprechend fehlt es dem Westen an Debattenkultur. Man erinnere sich, wie der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy Staatspräsident Nicolas Sarkozy zum militärischen Schlag gegen Ghadhafi animierte und wie er vor kurzem noch auf dem Maidan von der Freiheit schwadronierte, als wären die Wolken am Horizont noch nicht sichtbar gewesen. Das ist sicherlich ein extremes Beispiel, aber auch in anderen Ländern gibt es eine Freiheitsrhetorik, deren Popularität sich gerade daraus schöpft, dass sie durch keine Wirklichkeit irritiert werden kann. Daher ist dringlich die Frage zu stellen, ob das Leid, das wir zur Kenntnis nehmen müssen, durch das Ideal der politischen Freiheit wirklich gedeckt ist.
So zu fragen, heisst nicht, den Wert der politischen Freiheit zu bezweifeln. Wer vor der Gewalt der Diktatoren warnt, rechtfertigt damit nicht ihre Herrschaft. Aber er sieht im westlichen Freiheitsideal kein Wundermittel, das wie von selbst bessere Verhältnisse schafft. Die Durchsetzung der Freiheit, der Kampf um die Freiheitsrechte erzeugt Leid, das eigenes Gewicht hat. Wir sollten es nicht übergehen. Das ist eine Forderung, die uns die Opfer stellen.
Stephan Wehowsky ist Redaktor bei der Internetzeitung «Journal21».
Den vollständigen Artikel finden Sie hier in der NZZ.
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