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02.06.2015

 

Ein Augenschein in Saudiarabien

 

Auffälliger Wandel im Königreich

 

Ein Augenschein in Saudiarabien bestätigt, dass sich das Königreich stark verändert hat. Viele westliche Klischees über das Land stimmen nicht.

 

Im Königreich Saudi-Arabien reißt die Menschen normalerweise der Gesang von Muezzins, den Ausrufern der Moscheen, aus dem Schlaf. Wie es im Islam üblich ist, rufen die Geistlichen die Muslime bereits zur Morgendämmerung über Lautsprecher im ganzen Land zum Gebet. Doch dieser Tage sind es vielerorts Presslufthammer, Bagger und Baufahrzeuge, die Einwohner schon mitten in der Nacht wachrütteln.

 

U-Bahn-Bau kommt voran

 

Gebaut wird in Saudiarabien derzeit an jeder Ecke. Neue Straßen, moderne Wohnhäuser, Bürokomplexe, Strom- und Wasserleitungen, Mobilfunkantennen, Einkaufsläden, Restaurants, Hotelgebäude oder Flughäfen – einfach alles scheint in dem Königreich gerade zu entstehen. Überall wird gehämmert. Wo die Infrastruktur nicht komplett neu errichtet wird, sind Arbeiter zumindest daran, sie auszubessern. In Riad, der Hauptstadt Saudiarabiens, ziehen sich Baustellen der neuen U-Bahn quer durch die Metropole. Für mehr als 20 Mrd. $ sollen ausländische Konsortien in den kommenden Jahren der 6 Mio. Einwohner zählenden Hauptstadt zu einer eigenen Metro verhelfen.

 

Die Konzerne machen vorwärts, und der Eindruck täuscht sicher nicht, dass das ganze Land hinsichtlich Infrastruktur in Windeseile vorankommen will. 2014 wurden nach Schätzungen Bauprojekte im Wert von 75 Mrd. $ vergeben. Auch der Verkauf von Zement, ein guter Indikator für die wirtschaftliche Dynamik, lag in der zweiten Jahreshälfte 2014 deutlich über den bereits hohen Vorjahreswerten. Das Wirtschaftswachstum soll 2015 bei rund 3% liegen; außerhalb der Erdölindustrie rechnet der Privatsektor mit fast doppelt so viel Zuwachs. Das Königreich boomt. Gewiss, im Vergleich mit den kleinen Emiraten Dubai oder Katar hinkt das Land etwas hinterher. Doch die Herausforderungen Saudiarabiens, einem Wüstenstaat mit der 50-fachen Fläche der Schweiz, sind oft auch völlig anders gelagert. Mit einer Sonderzahlung von zwei Monatssalären an alle Staatsangestellten und Pensionäre hat der seit einigen Monaten amtierende König Salman auch dafür gesorgt, dass der Privatkonsum rege ist. Davon dürften rund 6 Mio. der insgesamt 30 Mio. Einwohner des Königreiches profitiert haben. Jedenfalls führte dies zu einem Einkommensschub von umgerechnet 15 Mrd. Fr.

 

Saudiarabien hat sich in den vergangenen Jahren auffällig stark gewandelt. Das spüren Fremde schon bei der Einreise, wenn nicht mehr schlechtgelaunte Uniformierte die Ankömmlinge empfangen, sondern freundliche Beamte in Zivilkleidung die Formalitäten erledigen. Auch die Abläufe sind effizient, was früher selten der Fall gewesen war. Doch Baulärm und bessere Prozesse im Staatsdienst sind nicht die einzigen Veränderungen, die im saudischen Königreich zu beobachten sind. Überraschend sind die vielen arbeitenden Frauen. Was vor Jahren nur in Spitälern oder manchen Schulen denkbar war, ist mittlerweile in Supermärkten, Warenhäusern, Hotels, Fabrikhallen und Bürogebäuden zur Realität geworden. Frauen arbeiten, und sie sprechen Kunden oder männliche Kollegen offen an. Das kommt für saudische Verhältnisse einer Revolution nahe, weil sehr konservative Kreise das weibliche Geschlecht lieber noch strikt von den Männern getrennt und lieber zu Hause sitzen sehen möchten. Aber junge Familien können das zweite Einkommen oft gut gebrauchen. Auch die boomende Wirtschaft setzt gerne auf die häufig gut ausgebildeten Frauen als Arbeitskräfte. Laut offiziellen Statistiken gingen in der ersten Jahreshälfte 2014 bereits 17,6% der saudischen Frauen einer Beschäftigung nach.

 

Überall im Land fallen zudem Lockerungen der Kleidungsvorschriften auf. Männer laufen ungeniert in Shorts herum, und unverschleierte Frauen sind fast überall anzutreffen. Für Schlagzeilen in Lokalzeitungen hat unlängst die italienische Chefköchin Francesca Simoni gesorgt, die als erste Frau – noch dazu unverschleiert – im «Rosewood Hotel» in Jidda öffentlich Spezialitäten aus ihrem Heimatland angeboten hat. Auch ausländisches Flugpersonal berichtet, dass es während der Aufenthalte im Königreich bezüglich Kleidung mittlerweile lockerer geworden sei.

 

Mancherorts im Westen herrscht trotzdem das Klischee vor, in Saudiarabien walte immer Tristesse. Als Begründung wird oft angeführt, dass die Einwohner fünfmal am Tag beten und die Menschen von einer allgegenwärtigen, sehr strengen Religionspolizei zur Ordnung gerufen werden. Besucher des Königreiches können dies nur selten bestätigen.

 

Vielerorts im Lande sind Vergnügungsparks mit leuchtenden Riesenrädern für Familien anzutreffen; Rollschuhfahrer ziehen auf Straßen und Gehwegen ihre Bahnen. Geschäfte bleiben sogar vereinzelt während der Gebetszeiten geöffnet, was früher streng geahndet wurde. Die Zensur, die Websites blockiert und ausländische Presseerzeugnisse schwärzt, scheint gemäss im Königreich wohnenden Ausländern durchlässiger geworden zu sein. Eine weitere Beobachtung: Besucher von Einkaufszentren müssen aufpassen, nicht mit herumfahrenden Minizügen, die voll besetzt mit Kindern und ihren Eltern sind, zu kollidieren.

 

Mutawa noch stark präsent

 

Heerscharen an Jugendlichen flirten zudem am Freitagabend (nach westlichem Verständnis ist das der erste Tag des Wochenendes). Im Diplomatenquartier in Riad oder im Shoppingcenter «Red Sea Mall» in Jidda geht es locker zu und her. Aber dann gibt es plötzlich wieder lautes Geschrei, wenn Langbärtige der Religionspolizei Mutawa versuchen, Gespräche zwischen jungen Menschen zu unterbinden, das Alter von Personen zu kontrollieren oder Männer anzuweisen, dass ihre Begleiterinnen gefälligst die Kopfbedeckung ordentlich zurechtrücken sollen. Dies kann dem bunten Treiben der Jugendlichen jedoch kaum ein Ende setzen. Und wie man hört, gibt es zum zehnfach höheren Preis als im Westen inzwischen auch in Saudiarabien inoffiziell Alkohol zu kaufen.

 

Bei alldem muss bedacht werden, dass sich Saudiarabien als Hüterin der heiligen Stätten Mekka und Medina für Änderungen im Königreich nicht zuletzt vor 1,6 Mrd. Muslimen in der Welt rechtfertigen muss. Auch daher möchten die Herrschenden gesellschaftliche Wandlungsprozesse wohl nur behutsam zulassen. Doch die Veränderungen, die die junge Bevölkerung verstärkt herbeisehnt, sind kaum aufzuhalten. Mit der Erneuerung des Landes verbessert sich das Geschäftsklima. Die Öffnung des saudischen Kapitalmarktes für westliche Investoren in wenigen Tagen dürfte solche Reformen beschleunigen.

 

Hier finden Sie den vollständigen Artikel von Rico Kutscher erschien in der NZZ am 01.06.2015.

 

   

< Im Dialog: Alfred Schier mit Michael Lüders