Das palästinensische Hüttendorf Sussia wehrt sich gegen Israels Abrissbefehle und hat dabei Brüssel und Washington auf seiner Seite.
Achmed Nawaje würde die Felshöhle, in der er zur Welt kam, gerne mal seinen Kindern zeigen. Sie liegt ganz in der Nähe, zu Fuß höchstens eine Viertelstunde entfernt. Aber für den 33-Jährigen ist sie so gut wie unerreichbar. Er müsste schon ein Eintrittsticket zahlen, um dorthin zu gelangen – falls die Siedler ihm eines verkaufen. Denn wo ursprünglich das palästinensische Dorf Sussia stand, befindet sich heute eine israelische Ausgrabungsstätte, im Prospekt die „antike jüdische Stadt“ genannt.
Als Archäologen Ruinen einer Synagoge mit Mosaikboden aus Zeiten des Zweiten Tempels entdeckten, mussten die palästinensischen Dorfbewohner weichen. Das war 1986. Ähnliches haben sie seitdem mehrfach erlebt. Jetzt ist ihr Weiler, der aus nicht mehr als einigen Dutzend armseliger Hütten und Schuppen besteht, erneut in Gefahr, abgerissen zu werden. Es wäre das fünfte Mal, dass die 40 Familien, die hier, im südlichen Zipfel der Westbank, hausen, alles verlieren.
Gerade deshalb haben sich in den Machtzentralen der Welt Fürsprecher zu ihren Gunsten eingeschaltet. So riet US-Außenamtssprecher John Kirby jüngst den israelischen Behörden „dringend“ von einer Räumung Sussias ab. Die Warnung aus Washington, eine solche Aktion wäre „schädlich und provokativ“, hat Achmed Nawaje an sein Wohnzelt geheftet. In fetten Lettern steht darüber das Wort „Achtung“. Vermerkt ist auf dem Zettel ebenso der Appell der EU-Außenminister, die geplante Zwangsumsiedlung zu stoppen. In ihren teuren Limousinen fuhren amerikanische und europäische Diplomaten auch persönlich vor, um zu demonstrieren, welche politische Bedeutung sie diesem verstaubten Flecken beimessen. Denn Sussia ist zum Symbol der Verteidigung palästinensischer Rechte in den von Israel kontrollierten Teilen des Westjordanlands geworden.
Ein feindseliges Verhältnis
Bislang hatten die Siedler hier das Sagen. In diesem Fall allerdings ist Israel in die Defensive geraten. Nicht zuletzt, weil sogar ein Gutachter der Militärverwaltung nach Prüfung alter Besitzurkunden aus osmanischer Zeit befand, das steinige Land sei tatsächlich palästinensischer Privatbesitz.
Die Bauern von Sussia hatten sich darauf bereits 1986 berufen, als sie sich nach der Vertreibung aus ihren alten Höhlen auf ihrem Weideland auf der anderen Hügelseite niederließen. Nur ließ man sie auch im neuen Sussia nicht lange in Frieden. 1991 kamen israelische Soldaten und packten sie auf Lastwagen, um sie zum Umzug nach Jatta, eine palästinensische Stadt fünf Kilometer weiter, zu bewegen. Aber die Leute zog es alsbald zurück auf ihr Land.. Ohne Ackerbau und Viehzucht hätten sie keine Existenzgrundlage mehr gehabt. Das Gleiche wiederholte sich 1997.
„Was sie haben, ist nicht mehr als ein schäbiges Feldlager, nirgendwo auf der Welt nennt man so was ein Dorf“, erregt sich Ari Briggs von der Siedlerorganisation Regavim. „Warum mussten sie es ausgerechnet dort aufschlagen?“ – genau zwischen dem Archäologiepark und der jüdischen Ansiedlung, die ebenfalls Sussia heißt und auf privatem, palästinensischem Boden erbaut wurde. Die Siedler stören sich nicht nur am Anblick des palästinensischen Weilers. Sie würden das weite Areal gern für sich nutzen.
Jedenfalls herrschte von Beginn an zwischen beiden Seiten ein feindseliges Verhältnis. Zwei palästinensische Männer aus Sussia wurden in den 90er Jahren von israelischen Siedlern umgebracht. „Eines der Opfer“, berichtet Achmed Nawaje, „war mein Cousin, damals 52 Jahre alt.“ Er hatte seine Schafherde am Hang nahe des israelischen Sussia weiden lassen – zu nahe in den Augen eines Siedlercowboys, der ihn nach Wildwest-Art erschoss.
2001 geschah ein Mord an einem Siedler, begangen von einem Palästinenser aus Jatta. Büßen ließ man die Bauern aus Sussia gleich mit. Sie wurden zwangsgeräumt, ihre Olivenbäume abgehackt, ihre Tiere verbrannt. Das Oberste Gericht beschied allerdings, eine solche Kollektivstrafe sei unrechtmäßig. Die Palästinenser durften heim. Der Streit um ihr Bleiberecht dauerte indes an.
Gleichzeitig erlebte Sussia eine ungekannte Solidaritätswelle. Israelische Friedensaktivisten brachten ihnen bei, wie man mit Wind und Sonne Energie erzeugen kann. Deutschland finanzierte die Solaranlage, ein Windrad kam hinzu. Holland spendierte Wassertanks, Italien eine ambulante Klinik. Derweil heftete die israelische Armee immer wieder mal Abrissbefehle an einzelne Hütten.
Doch jetzt ist ganz Sussia in Gefahr. Das halbe Dorf hat bereits neue gerichtliche Verfügungen ausgehändigt bekommen, bauliche Strukturen abzureißen: auch jene, die mit EU-Geldern entstanden. Israel erkennt zwar die Grundstückurkunden an, will aber die Unterkünfte und Stallungen weghaben. General Joav Mordechai, Koordinator der Militärverwaltung im Westjordanland, kam sogar persönlich, um die Bewohner zu überzeugen, ihre Sachen zu packen: Vor Gericht – wo für den 3. August eine neue Anhörung zum Fall Sussia anberaumt ist – hätten sie keine echte Chance und die Siedler würden ihnen eh nur Ärger machen. Besser sie siedelten sich irgendwo in den Autonomiegebieten an. „Eine Karte, wo genau, hat er uns nicht gezeigt“, sagt Achmed Nawaje. Auch auf Nachfrage der FR hieß es in der Stellungnahme der Verwaltung lediglich, man prüfe eine „alternative Lösung im Einklang mit Planungserfordernissen“.
Vom Vorschlag, in die Stadt Jatta zu ziehen und zum Bestellen ihrer Felder herzufahren, halten die Bauern von Sussia nichts. „Ausgeschlossen “, sagt Nawaje. „Meine Familie hat das Land nur behalten, weil wir darauf leben. Sonst hätten sich die Siedler hier längst breit gemacht.“ Sein 70-jähriger Vater, Mohammed Nawaje, genießt derweil den aufkommenden Abendwind und den weiten Blick über die Westbankhügel. Er tippt auf seine Sitzmatratze vorm Zelt. „Selbst wenn sie alles demolieren, ich rühre mich nicht vom Fleck.“
< Empfang zu Ehren des scheidenden Botschaftsrates Palästinas, Herrn Abdullah Hijazi