Sadik al-Azm ist einer der profiliertesten progressiven Denker der arabischen Welt. Seit langem beobachtet er die islamistischen Strömungen; Christian H. Meier hat ihn zu seinen Einsichten befragt.
Sadik al-Azm, Sie haben ein halbes Forscherleben damit verbracht, die islamistische Ideologie zu analysieren und zu kritisieren. Was fasziniert Sie an dem Thema?
Islamisten sind symptomatisch für ein Malaise. Sie spiegeln die Versäumnisse der arabischen Moderne wider: für Entwicklung und Fortschritt zu sorgen, starke Volkswirtschaften zu schaffen et cetera. Der Islamismus ist eine Bewegung der Restauration, die komplett von der Moderne Abstand nimmt.
Ist das wirklich so? Islamisten nutzen doch alle Instrumente, die die Moderne ihnen zur Verfügung stellt.
Ja – weil sie jedes Mittel benutzen würden, um ihre Ziele zu erreichen.
Erklären Sie uns noch einmal: Welche Ziele sind das?
Die Repräsentanten des traditionellen Islams, etwa die Al-Azhar-Universität in Kairo oder die Zitouna in Tunis, haben in den letzten hundert Jahren die Kontrolle über fast alle Lebensbereiche verloren. Heute beschränken sich ihre Kompetenzen auf Heirat, Scheidung, Geburt, Tod und Erbrecht. Alle anderen Bereiche – Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst, Medien – sind ihnen verloren gegangen. Nun schlagen sie zurück, um diese zurückzugewinnen. Daher ist die französische Bezeichnung für diese Leute auch recht treffend . . .
Im Französischen spricht man von Islamisten als «Integristen».
Während bei der englischen Bezeichnung – wie im Deutschen beim «islamischen Fundamentalismus» – die Betonung darauf liegt, zurückzukehren zu den Fundamenten, liegt der Fokus beim französischen «intégrisme» auf dem Ziel: alle Gesellschaftsbereiche wieder in die Scharia zu integrieren, wieder ihren obersten Herrschaftsprinzipien zu unterwerfen. Und um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Ich interessiere mich für diese Entwicklung, aber ich habe auch Angst vor ihr. Angst vor der schleichenden Mittelalterlichkeit dieser Leute, ihren apokalyptischen Visionen. Letztlich ist es doch so: Wenn man die Scharia vollkommen ernst nimmt, landet man – unter den gegenwärtigen Bedingungen – beim «Islamischen Staat».
Zu dem kompletten Interview vom 17.09.2015 der Neuen Zürcher Zeitung.
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