Ich habe als ehrenamtliche Lehrerin in einer Schule mit vielen Flüchtlingen unterrichtet. Und ich hätte nicht gedacht, was mich dort erwartet.
Die Flüchtlingskrise dominiert die deutschen Medien. Nicht zuletzt war es das Thema der Generaldebatte im Bundestag. Tagtäglich hören wir Horrorgeschichten von der Küste Griechenlands oder der ungarischen Grenze.
Jedoch kommen Berichterstattungen über positive Entwicklungen in der Flüchtlingskrise oft zu kurz, insbesondere von deutschen Schulen. Um mir ein eigenes Bild von der Lage zu machen, engagierte ich mich unmittelbar nach meinem Master in politischer Ökonomie als Ehrenamtliche in der Comenius Schule und unterrichte Flüchtlingskinder in Deutsch und Englisch.
Was ich dort sah, überraschte mich positiv und demonstrierte ein Vorzeigemodell einer erfolgreichen Integration der Flüchtlingskinder in das Deutsche Bildungssystem.
Ein Jahr durchs Mittelmeer
Ein Jahr durch das Mittelmeer und nun steht der deutsche Realabschluss bevor. Bereits in der ersten Woche war ich begeistert von der Disziplin der rund 60 SchülerInnen aus 20 verschiedenen Ländern, wie Syrien, Afghanistan, Somalia und Pakistan.
Zu den ambitionierten SchülernInnen gehört auch Mahmood (fiktiver Name), ein siebzehnjähriger Schüler, der sich derzeit auf seine Abschlussprüfungen in der zehnten Klasse vorbereitet. Vor gut einem Jahr kam Mahmood nach Deutschland.
Bereits mit fünfzehn begann seine Flucht aus Afghanistan. Nach einem Zwischenstopp im Iran und der Türkei musste Mahmood 13 Monate wegen angeblich fehlender Dokumente in einem griechischen Gefängnis ausharren.
„Wir lebten zusammen mit tausenden von Männern und sie gaben uns nur Essen und Trinken, sonst nichts", erzählt Mahmood. Trotz der miserablen Hygienestandards und dem täglichen Starren auf leere Wände hat Mahmood die Hoffnung auf eine Weiterreise in das „freie und sichere Deutschland" nicht aufgeben.
Heute ist er auf der Comenius Schule und träumt davon. nach seinem Abschluss Elektroingenieur zu werden. Wie für viele andere Flüchtlingskinder ist es für ihn ein Privileg, „normal" zu sein und ohne Angst in die Schule gehen zu können.
Das nervenzerreißende Entkommen vor den Gräueltaten und der Perspektivlosigkeit im eigenen Land bleiben nicht ohne Folgen. Insbesondere bei den Kleinen. So berichtete Klassenlehrerin Kathrin Schmidt, dass sich Kinder bei einem Feueralarm oder bei vorbeifliegenden Hubschraubern und Düsenjets sich vor Angst unter Tischen und Stühlen verstecken.
In Afghanistan oder Teilen Pakistans, so erzählen einige Kinder, ist ein Feueralarm die Warnung, sich vor einem bewaffneten Überfall von Terroristen zu verstecken. Schmidt sagt, dass sie sehr viel von den Kindern gelernt hat.
Sodass selbstverständliche Dinge, wie ein Feueralarm eine andere Bedeutung haben können und dass viele Schüler es als Recht und nicht als Pflicht empfinden, in die Schule gehen zu dürfen.
Über den Unterricht hinaus braucht man viel Empathie und emotionale Bindung. Wenn Politiker heute von einer Bildungsoffensive für Flüchtlingskinder sprechen, beinhaltet dies nicht nur das Lehren der deutschen Sprache, sondern auch viel Flexibilität in der Unterrichtsweise und auch eine stark ausgeprägte Empathie bei der pädagogischen Betreuung der Kinder.
Aufgrund eines fehlenden Lehrplans und Materialien mussten die LehrerInnen laut Schuldirektor Karl Paul viel improvisieren. Eine große Herausforderung sei das unterschiedliche Schulniveau der Kinder, berichten die LehrerInnen. Daher habe man auf die Kinder persönlich angepasste Lernmethoden entwickelt.
Außerhalb des Unterrichtstoffes sind die Lehrer auch Ansprechpartner in allen Lebenslagen. So zum Beispiel bei Fragen zum Arztbesuch oder amtlichen Belangen. Mich beeindruckte sehr, dass die LehrerInnen neben ihrer Lehrerrolle auch eine Art Ersatzmama für die Kinder darstellen.
Eine reibungslose pädagogische Betreuung setzt auch sprachliche Kenntnisse bei den Lehrern voraus. Geprägt von den Ereignissen handelte Direktor Paul daher zur rechten Zeit und stellte zusätzlich mehrsprachige Lehrkräfte ein und fand für jedes Kind einen Schüler als Paten.
„Weit über den normalen Unterricht hinaus braucht es ganz viel Empathie und emotionale Bindung. Dies geht nur mithilfe des Mediums Sprache im konkreten Fall Muttersprache Arabisch", so Paul. Deshalb sieht er das Engagement von arabischen Muttersprachlern wie Hafez Ibrahim als einen Glücksfall für die Schule.
Auch ich bemerkte, dass Ibrahim ein viel besseres Verständnis für die Belange der meisten Kinder hat und eine Vertrautheit bei ihnen erweckt. Dies erleichtert nicht nur eine effiziente Förderung der Kinder, sondern ermöglicht es anderen LehrerInnen so einen besseren Zugang zu den Kindern zu finden.
So passen sich nicht nur die Kinder dem deutschen Schulsystem an, sondern auch die Lehrer den Kindern. Die Comenius Schule zeichnet sich auch durch ein weiteres außerordentliches Engagement aus. Erstmals in Hessen stellt sie nun auch ehrenamtliche Helfer zur Unterstützung der Lehrkräfte im Unterricht ein.
So war ich hessenweit die erste ehrenamtliche Lehrkraft mit Migrationshintergrund. Auch ich half den Kindern bei ihren sprachlichen Barrieren und ihren Hausaufgaben. Zudem fördere ich nun auf die Initiative des Direktors hin begabte Flüchtlingsinder mit Zusatzunterricht in Englisch.
„Nur wenn wir die Kinder dort abholen, wo sie stehen, können wir ihr Selbstbewusstsein fördern", legte mir der Direktor nahe.
„Wir sind Comenius" - Mit diesem Slogan zeigen die Flüchtlingskinder ihr Zugehörigkeitsgefühl. Die Comenius Schule hat sich zum Ziel gesetzt, den Kindern so schnell wie möglich ein Gefühl der Normalität zu vermitteln. So beteiligen sich schon die ersten SchülerInnen bald im Schulchor oder treffen sich zum gemeinsamen Weihnachtsplätzchen Backen.
Eine neue Patenschaft zwischen einer Schulklasse in Kambodscha und einer achten Klasse sowie einer Flüchtlingsklasse soll die Integration auf zwei Ebenen ermöglichen.
So werden die Comenius-SchülerInnen eine E-Mail-Patenschaft mit Schülern in Kambodscha aufbauen und ihnen mit Spendenprojekten einen Zugang zu sauberem Wasser durch den Bau eines Brunnens ermöglichen.
So will Direktor Paul den Kontakt von Flüchtlingsschülern und anderen SchülernInnen verstärken, indem sie an demselben Projekt arbeiten. Durch eine Kombination aus Politik-, Kultur- und Geschichtsunterricht wecke auch ich regelmäßig das Bewusstsein der Kinder für das tägliche Weltgeschehen.
So kommen im Unterricht interessante Fragen darüber auf, was eine Demokratie ist. Auch die Existenz über andere Regierungsformen ist für die Meisten von Ihnen alles andere als selbstverständlich.
Mein Fazit aus meiner ehrenamtlichen Erfahrung: Trotz all der Hürden, denen die Kinder auf dem Weg nach Deutschland begegnet sind, sind sie dennoch hoch motivierte, beeindruckende und wissbegierige Jungen und Mädchen, die nicht nur mit dem Slogan „Wir sind Comenius" ihren Wunsch auf Zugehörigkeit ausdrücken, sondern darin einen Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft in Deutschland sehen.
Als ich mit meiner Tätigkeit an der Schule angefangen habe, erwartete ich nicht eine so gute Einbindung der Kinder in die Schule. Das Beispiel der Comenius Schule verdeutlichte mir, dass nur eine beidseitige Integration zum Erfolg führen kann.
Nichtsdestotrotz sind die Schulen überlastet. Insgesamt werden noch 24.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt.
Da nach Rechnungen der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in den nächsten zwölf Monaten bundesweit rund 300.000 zusätzliche Schüler/Innen dazukommen werden, kann ich SchülernInnen und StudentenInnen nur dazu motivieren, sich bei der Förderung dieser Kinder zu beteiligen.
Der aktuelle gesellschaftliche Wandel stellt Deutschland vor eine erhebliche Herausforderung. Bereits wenn jeder ein kleines Zahnrad von einem Großen Rad des Wandels ist, kann eine erfolgreiche Integration ermöglicht werden.
Wie auch Konrad Adenauer vor 60 Jahren sagte, müssen europäische Mächte auch heute Abschied nehmen von Illusionen, nicht rückwärts denken, sondern die Dinge sehen, wie sie jetzt sind, und vor allem in die Zukunft sehen.
Nur wenn wir die gesellschaftlichen Probleme rechtzeitig am Schopf packen, können wir ein buntes und progressives Deutschland fördern.
Der vollständige Artikel erschien am 01.12.2015 in der Huffington Post Deutschland.
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