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24.01.2017

 

Israel - Türkei: Gaza ohne Partner

 

 

Ein Mitarbeiter von medico-Partner PMRS im Gazastreifen 2008. (Foto: medico)

Über das geopolitische Tauziehen, das derzeit den Nahen und Mittleren Osten bestimmt, gerät eine Region besonders aus dem Blick: der Gazastreifen.

 

Von Riad Othman

 

Rund zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen unter zumeist menschenunwürdigen Bedingungen auf engstem Raum.  Und ihre Lage droht sich weiter zu verschlechtern. Grund dafür ist die jüngste diplomatische Annäherung zwischen Ankara und Jerusalem von Ende Juni. Denn bislang hat die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan die im Gazastreifen regierende Hamas massiv unterstützt. Immer wieder hat sie sich dabei auch entschieden für ein Ende der strikten israelischen Kontrolle über das schmale Küstengebiet eingesetzt. Damit ist es nun vorbei.

 

Die Hamas bringt der Wegfall eines ihrer wichtigsten Bündnispartner in arge Bedrängnis. Ohnehin ist die islamistische Organisation bereits seit langem wegen ihrer Nicht-Anerkennung des Staates Israel international weitgehend isoliert, die EU und die USA stufen sie als Terrororganisation ein. Um den Verlust des Partners Türkei aufzuwiegen, wirbt die  Hamas derzeit vor allem in Katar und Iran um weitere politische wie finanzielle Unterstützung. Noch ist offen, wie erfolgreich sie dabei sein wird. Fest steht aber schon jetzt, dass der Ausgang dieser Bemühungen die Zukunft der Hamas und damit des innerpalästinensischen Konflikts entscheidend beeinflussen wird.

 

Gänzlich anders sieht es bei der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aus. Sie zeigt nach wie vor wenig Interesse an einem prosperierenden Gazastreifen, weil sie nicht die Hamas stärken will. Vor allem aber verschafft ihr die Einigung mit der Türkei geopolitische wie auch wirtschaftliche Vorteile. Die Übereinkunft beendet zugleich einen seit Jahren schwelenden Streit zwischen Ankara und Jerusalem.

 

Die Enterung der Mavi Marmara

Die Wurzeln dieses Konflikts reichen bis ins Jahr 2010 zurück. Damals hatte sich aus der Türkei eine Flottille auf den Weg nach Gaza gemacht. Sie sollte öffentlichkeitswirksam die Seeblockade der israelischen Marine durchbrechen und Hilfsgüter in den Küstenstreifen bringen. Israel hatte den Gazastreifen nach der Machtübernahme durch die Hamas im Jahr 2007 hermetisch abgeriegelt. Insbesondere die Einfuhr von doppelt, also zivil wie militärisch nutzbaren Gütern ist seitdem stark eingeschränkt. Darunter fallen beispielsweise Zement und Baustahl, die die Hamas für die Errichtung militärischer Einrichtungen nutzt. Allerdings bremsen die Ein- und Ausfuhrbeschränkungen auch den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung des Gazastreifens. Von der erwerbsfähigen Bevölkerung sind 42% arbeitslos (unter Jugendlichen gar 58%). Über 70% aller Haushalte (nicht nur Flüchtlinge) sind in Gaza mittlerweile Empfänger humanitärer Hilfe.

 

Der Schiffskonvoi erreichte seinen Zielhafen nicht. Noch in internationalen Gewässern wurden die Boote von israelischen Sonderkommandos geentert. Neun türkische Staatsangehörige kamen dabei ums Leben, dutzende weitere Menschen wurden verletzt. Danach herrschte zwischen Ankara und Jerusalem eine eisige Atmosphäre.

 

Es war vor allem die Türkei, die in den letzten Jahren nachdrücklich eine Beendigung der Gaza-Blockade anmahnte. Zwischenzeitlich schien das sogar in greifbare Nähe zu rücken: Als die letzten größeren Militärschläge Israels gegen den Gazastreifen im Sommer 2014 einmal mehr zu massiven Zerstörungen auf palästinensischer Seite führten, wurde der internationale Ruf nach einer Lockerung der Blockade lauter. Im September 2014 richteten die Vereinten Nationen, Israel und die – mit der Hamas rivalisierende – Palästinensische Autonomiebehörde den Gaza Reconstruction Mechanism (GRM) ein. Aber auch der GRM reglementiert rigoros die Einfuhr von Materialien für den Wiederaufbau und hat die bestehenden Beschränkungen daher eher gefestigt als gelockert.[1]

 

Rolle rückwärts

Mit der Annäherung zwischen Ankara und Jerusalem sinken die Chancen auf eine Verbesserung der Lebensumstände im Gazastreifen nun noch weiter. Nicht einmal mehr eine Lockerung der bestehenden Restriktionen steht derzeit auf der Agenda.

 

Ermöglicht wurde die Einigung durch die Entschuldigung Israels für die Aufbringung der Mavi Marmara. Die türkische Regierung feierte ihren diplomatischen Erfolg öffentlich mit riesigen Plakaten; Regierungsvertreter betonten, dass Israel die Opfer und deren Hinterbliebene entschädigen werde. Doch weder das eine noch das andere ist neu: Denn bereits vor drei Jahren hatte sich die israelische Regierung entschuldigt und sich zur Zahlung von 20 Mio. US-Dollar verpflichtet. Bislang aber scheiterte die Umsetzung der damaligen Einigung an dem türkischen Insistieren auf einem Ende der Gazablockade.

 

Die Zusicherung Ankaras, Klagen gegen israelische Offiziere zu verhindern, wurde Anfang Dezember erfüllt. Der zuständige Gerichtshof in Istanbul schloss den Fall und annullierte die internationalen Haftbefehle gegen vier Militärangehörige. Im Gazastreifen beschränkt die türkische Regierung ihr Engagement fortan auf humanitäre Hilfe: Sie will dort unter anderem ein Kraftwerk und ein Krankenhaus bauen. Offenbar soll die Bevölkerung in dem verelendeten Küstenstreifen auf diese Weise humanitär befriedet werden.

 

Denn viel mehr wird sich nicht ändern: Alle Hilfsgüter, die über Israel nach Gaza gebracht werden, unterliegen weiterhin strengen israelischen Kontrollen. „Die israelisch-türkische Verständigung wird keine echte Besserung der Lage im Gazastreifen bringen“, sagt denn auch Mahmoud Aburahma vom Menschenrechtszentrum Al Mezan in Gaza. „Die Infrastruktur, vor allem die Stromversorgung, könnte sich durch die türkische Hilfe zwar verbessern, aber das wird Jahre dauern.“ Und selbst das ist nicht ausgemacht: Denn sollte es zu Angriffen der Hamas auf israelisches Territorium oder anderen Zwischenfällen kommen, kann Israel jedwede Hilfe unmittelbar stoppen. Ankara will allerdings dafür Sorge tragen, dass die Hamas zumindest innerhalb der Türkei keine Terroraktivitäten gegen Israel durchführt oder vorbereitet.

 

Beide Seiten profitieren

Mit Ankaras Entscheidung endet allerdings nicht auch Erdogans regionale Unterstützung für die Muslimbruderschaft. Vielmehr beschränkt sich die politische Kehrtwende der türkischen Regierung vor allem auf die Hamas und die Lage im Gazastreifen. „Wie in Saudi-Arabien scheinen die Palästinenser auch in der Türkei von der Agenda weitgehend verschwunden zu sein“, glaubt Mahmoud Aburahma. Die Türkei, Saudi-Arabien und Israel sehen sich primär als Verbündete gegenüber der Regionalmacht Iran. Dementsprechend lässt sich die Annäherung zwischen Erdogan und Netanjahu als strategische Allianz zwischen zwei rechtskonservativen und nationalistischen regionalen Machthabern verstehen.

 

Benjamin Netanjahu kann die Annäherung als wichtigen außenpolitischen Erfolg verbuchen, der Israel keinen besonders hohen Preis gekostet hat.

Zu den geopolitischen treten ökonomische Interessen. Tatsächlich spielen Gasvorkommen im Mittelmeer eine nicht zu unterschätzende Rolle in der regionalen Gemengelage. Entscheidend ist dabei die Frage, durch welches Territorium die zentrale Leitung nach Europa verlegt wird. Und just am Tag, als die Knesset der Ausbeutung eines Gasfeldes vor der israelischen Küste zustimmte, gelang endlich die Einigung mit der Türkei. Jerusalem will dabei künftig mit Ankara kooperieren. Die Gespräche mit der Türkei darüber hatten sich bereits seit einigen Jahren hingezogen. Denn neben der Türkei zeigte sich auch Griechenland interessiert. Athen bot sogar an, die bindenden Kennzeichnungsrichtlinien der EU für Produkte aus israelischen Siedlungen auszusetzen. Zudem hatten die griechischen Vertreter in internationalen Gremien seit einiger Zeit ihr Abstimmungsverhalten zugunsten der israelischen Regierung verändert – zuletzt im Januar 2016, als auf Athens Betreiben die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zum Nahost-Friedensprozess aufgeweicht wurden. Doch am Ende war alles Bemühen umsonst. Aus israelischer Sicht hat Griechenland weitaus weniger anzubieten als die Türkei, die nicht nur der wichtigere Handelspartner, sondern auch militärisch schlagkräftiger ist.

 

Das türkische Parlament hat die Einigung bereits ratifiziert, und Präsident Erdogan hat sie unterzeichnet. Benjamin Netanjahu kann die Annäherung als wichtigen außenpolitischen Erfolg verbuchen, der Israel keinen besonders hohen Preis gekostet hat. Beide Seiten haben ihr Gesicht wahren können, und das Kapitel der Mavi Marmara wurde abgeschlossen.

 

Kein Friede in Sicht

So begrüßenswert die türkisch-israelische Einigung auch ist, so wenig wird sie für Frieden im Nahen Osten sorgen. Weder wird sie die Feindschaft zwischen Israel und der Hamas beenden, noch den Streit zwischen Autonomiebehörde bzw. Fatah und Hamas beilegen.

 

Zu ausgeprägt sind die jeweiligen Eigeninteressen der palästinensischen Eliten, als dass diese sich zu einer Aussöhnung durchringen könnten. Mit offenkundigem Unwille begegnete die Hamas – aber auch die Fatah –, dem Ansinnen, die ursprünglich für den 8. Oktober geplanten Kommunalwahlen frei und fair abzuhalten. Das verdeutlicht, welch untergeordnete Bedeutung demokratische Prozesse und Institutionen für beiden Seiten haben. Eigentlich hätten die Palästinenser an diesem Tag im Westjordanland und im Gazastreifen Bürgermeister und Gemeinderäte wählen sollen. Ein Gericht im Gazastreifen hatte jedoch fünf Fatah-Listen nicht zugelassen, was in Ramallah als Affront betrachtet wurde. Der Urnengang wurde daraufhin erst auf Dezember, dann auf unbestimmte Zeit verschoben. Die letzte Wahl im Gazastreifen liegt somit zehn Jahre zurück.

 

Darüber hinaus sind die internationalen Interessen an Gaza und dem Westjordanland zu schwach ausgeprägt, als dass eine Lösung der Probleme von außen herbeigeführt werden könnte. In Europa sind der Sicherheitsdiskurs und die Angst vor dem Islamismus so dominant, dass auch hier das Narrativ der israelischen Regierung vorherrscht: Stabilität ist wichtiger als Demokratie. Für die in Gaza lebende Zivilbevölkerung bedeutet dies: Sie wird auf ein israelisches Sicherheitsproblem reduziert.

 

Folgerichtig wird denn auch vor allem die Stabilität gepriesen, die das Abkommen zwischen der Türkei und Israel bringen soll. Wie illusorisch diese Einschätzung jedoch ist, zeigen Untersuchungen der Weltbank und die Berichte unterschiedlicher UN-Einrichtungen.[2] Demnach ist die Abriegelung des Gazastreifens maßgeblich für die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten verantwortlich. Gäbe es diese nicht, hätte die palästinensische Wirtschaft etwa den doppelten Umfang. In einigen Jahren wird sich die ohnehin schon katastrophale Lage sogar dramatisch verschärfen: Schon jetzt ist das Leitungswasser in über 90 Prozent der Haushalte nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet. Eine Studie der Vereinten Nationen sagte schon 2012 vorher, der Gazastreifen könnte ab dem Jahr 2020 „unbewohnbar“ werden.[3] Und in der Tat steigt die Kindersterblichkeit zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder an.[4]

 

Doch für Jerusalem bleibt die Aufrechterhaltung des Status quo die billigste und schmerzloseste Variante. Das gilt zumindest solange, wie die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik international bloß auf Ermahnungen stößt. Die Weltgemeinschaft alimentiert die Palästinenser humanitär und enthebt Israel so im Westjordanland der kostspieligen Verantwortung, als Besatzungsmacht für die dort lebende Bevölkerung zu sorgen. Daher muss die israelische Führung keine Zugeständnisse machen, um vielleicht doch noch zu einem Friedensabkommen und einer Zweistaatenlösung zu kommen.

 

Der hoffnungslosen Lage entkommen

Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation wäre eine drastische Revision der Paris-Protokolle, die die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Israel und den Palästinensern bestimmen. Die dort festgelegten Handelshemmnisse, die eigentlich nur für fünf Jahre hätten gelten sollen, beschneiden seit 1994 die palästinensische Wirtschaft massiv und erhöhen so das Einnahmendefizit der Autonomiebehörde. Ein ungehinderter Verkehr von Waren und Personen unter Berücksichtigung tatsächlicher israelischer Sicherheitsinteressen wäre eine weitere unerlässliche Maßnahme, um die Menschenrechte vor Ort zu verwirklichen. Das zentrale Ziel sollten jedoch ein Ende der Abriegelung des Gazastreifens sowie das Ende der Besatzung großer Teile des Westjordanlandes sein.

 

Die palästinensischen Autoritäten im Gazastreifen und in der Westbank täten ihrerseits gut daran, die politischen und bürgerlichen Rechte der eigenen Bevölkerung ernst zu nehmen und das innerpalästinensische Schisma zwischen Gaza und Ramallah endlich zu überwinden. Nur so ließe sich eine gesamtpalästinensische, demokratisch legitimierte Regierung bilden.

Die palästinensischen Autoritäten im Gazastreifen und in der Westbank täten ihrerseits gut daran, die politischen und bürgerlichen Rechte der eigenen Bevölkerung ernst zu nehmen

Unterdessen sehnen sich in Gaza viele in die 1990er Jahre zurück. Damals konnten Palästinenser noch in Israel arbeiten, die Hamas war noch nicht an der Macht und der Küstenstreifen noch nicht von der Welt abgeschnitten. In der Erinnerung des Taxifahrers, der auf der Fahrt von Erez nach Gaza-Stadt aus seiner Vergangenheit erzählt, kommt Israel der Welt gleich: die Verheißung eines normalen Lebens mit Kaffeepausen am Tel Aviver Busbahnhof mit jüdischen Kollegen, spät abends nach der Arbeit zurück zur in Gaza lebenden Familie. Eigentlich dauert die Fahrt von der einen in die andere Stadt kaum mehr als eine Stunde.

 

Natürlich werden die Menschen in Gaza erleichtert sein, wenn türkische Hilfe das Stromnetz stabilisiert und die Not lindert. Doch wird die diplomatische Einigung zwischen Ankara und Jerusalem weder die Perspektivlosigkeit der Menschen in Gaza beenden noch die Ursachen ihres Elends beseitigen. Gerechtigkeit kann nicht durch humanitäre Nothilfe hergestellt werden. Und während die einen von Freiheit und gemeinsamen Kaffeepausen träumen, rüsten sich die anderen bereits für die nächsten Kämpfe. Und so sich nichts Grundlegendes ändert werden diese kommen.

 

Zuerst erschienen in Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2017, S. 21-24.


[1] Vgl. das Gutachten von Nigel White: Expert Opinion on the Legality of the Gaza Reconstruction Mechanism. 2016. Dem Autor liegt die ungekürzte Fassung der vertraulichen Expertenmeinung vor.

[2] Vgl. World Bank: Economic Monitoring Report to the Ad Hoc Liaison Committee. 2016.

UN Conference on Trade and Development: Report on UNCTAD Assistance to the Palestinian People: Developments in the Economy of the Occupied Palestinian Territory. 2016.

[3] UN Country Team in the occupied Palestinian territory: Gaza 2020 – A Livable Place? 2012.

[4] UNRWA: Infant Mortality Rate Rises in Gaza for First Time in Fifty Years. 2015.

Veröffentlicht am 17. Januar 2017

Quelle: https://www.medico.de/gaza-ohne-partner-16705/

 

   

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