Die Medina von Tunis zählt zu den schönsten und am besten erhaltenen Altstädten arabischer Länder. Die Unesco erklärte sie 1979 zum Weltkulturerbe. Erbaut wurde die Medina im 8. Jahrhundert. Dabei wurden die vornehmsten Souks wie jene der Juweliere und Parfum-Hersteller nahe der zentralen Zitouna-Moschee angelegt und jene Gewerbe, die Lärm oder Gestank verursachen, wie Schlosser oder Färber, am weitesten davon entfernt. Tunis war unter den Hafsiden (13.–16. Jahrhundert) eine bedeutende Hafen- und Handelsstadt.
Nach dem osmanisch-spanischen Konflikt erblühte sie erneut unter osmanischer Herrschaft im 17. Jahrhundert. Die heute bestehende charakteristische städtische Form der Medina – Häuser mit Innenhof sowie ein Netz enger Strassen und Gassen – entstand Ende des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Stadtmauern zerstört, die Souks und Wohngebiete blieben aber intakt.
Alles fürs tägliche Leben
Heute leben gut 100 000 Einwohner in der Medina, die mit der Kasbah, wo sich der Regierungssitz befindet, insgesamt 15 000 Gebäude auf 300 Hektaren umfasst. In den Souks findet die Bevölkerung noch immer alles für das tägliche Leben, von Geschirr über Kleidung bis zur Kessa, dem speziellen Waschlappen, mit dem man sich im Hammam die Haut abrubbelt. Auch die vornehmsten Gewerbe befinden sich noch nahe der Zitouna-Moschee. Die Familie von Elyes El-Bahri führt hier seit 1935 ein Juweliergeschäft, das auf alten Schmuck spezialisiert ist, der bei Auktionen angekauft wird. El-Bahris Vater war in den 1960er Jahren der erste Vertreter von Tissot und Omega in Tunis.Einige Kunsthandwerke mussten sich neu erfinden. Die Kupferschmiedarbeit etwa florierte früher in Tunesien, weil ihre Produkte Teil des Lebens der Einwohner waren. Viele Gegenstände aus Kupfer gehörten zur Aussteuer, etwa ein Tee- oder Kaffeeservice, Pfannen, Tabletts und Tischplatten. Mit der veränderten Lebensweise der Tunesier wandelte sich auch der Beruf. Die Gegenstände wurden zu Souvenirs für neue Kunden, die Touristen. Die Händler freute es, sie machten Druck auf die Kunsthandwerker, damit diese schneller produzierten.
Dies führte zu einer Minderung der Qualität, was viele Meister dazu bewog, den Beruf aufzugeben. Zudem fielen ab den 1990er Jahren die Preise. Es wurden kaum mehr Kupferschmiede ausgebildet. «Das Savoir-faire verschwand», sagt Mohamed Lidarssa, der sich das Hämmern, Ziselieren und Treiben als Autodidakt selbst beibrachte. Die verbliebenen Kupferschmiede versuchen das Metier wieder aufzubauen. In Lidarssas winzigem Atelier in der Medina biegen sich unter seinem Meissel Kupfer-, Messing- oder Silberplatten, bis sie zu Leuchten, Tabletts und anderen Gegenständen werden. Lidarssa machte viele Recherchen und entwickelte sein Kunsthandwerk weiter. Zurzeit arbeitet er an Filigranfiguren aus Gold-, Silber- oder Kupferfäden. Einen Durchbruch erlebte er, als der französische Luxuswarenhersteller Hermès bei ihm Ausstellungsobjekte bestellte.
Von der Zitouna-Moschee führt ein im Jahr 2010 renovierter, einen Kilometer langer Parcours zum Mausoleum Sidi Brahim Riahi nahe am Stadttor Bab Souika. Fenster und Tore der Gebäude in dieser Fussgängerzone ausserhalb der gedeckten Souks wurden renoviert, Fassaden weiss gekalkt und Kabel hinter den Mauern verstaut. Bei den Arbeiten wurde auch eine Eingangstür der Zitouna-Moschee aus dem 11. Jahrhundert freigelegt. Sie sei verdeckt gewesen, seit die Souks im 16. Jahrhundert überdacht wurden, sagt Zoubeir Mouhli, Architekt und Generaldirektor der Organisation für Denkmalschutz der Medina (ASM). An der Fussgängerstrecke befinden sich etwa das Stadtmuseum im ehemaligen Khéréddine-Palast und auch das Büro der ASM, ein Anfang des 19. Jahrhunderts gebautes Herrschaftshaus. Es verfügt über zwei Innenhöfe, auf die sich die Zimmer öffnen. Die Säulen und Böden sind aus Marmor, die Wände des grossen Hofs mit Keramikplättchen und Stuckatur geschmückt. Für die Renovation des Parcours wurde die ASM 2011 mit dem Jean-Paul-L'Allier-Preis der Welterbestädte ausgezeichnet. Viermal erhielt die ASM zudem den Architekturpreis der Stiftung Aga Khan, darunter für die Erneuerung des ehemals jüdischen Hafsia-Viertels.
Die Medina, einschliesslich des Hafsia-Viertels im östlichen Teil der Altstadt, verfiel seit Anfang des 20. Jahrhunderts, da wohlhabende Einwohner in die angrenzende neue Stadt zogen, die Frankreich ab Beginn seiner Protektoratsherrschaft 1881 baute. Um die Strassen der neuen Stadt zu erweitern, wurden in den 1960er Jahren in der Medina Gebäude abgerissen. Auch der Bau grosser Wohnblocks bedrohte den Charakter der Altstadt. Arme Zuzüger vom Land liessen sich jedoch weiter in baufälligen Gebäuden nieder. Als 1967 Bulldozer in ein dichtbesiedeltes Gebiet kamen, gab es beinahe einen Aufstand. Die grossartigen Projekte, die den Bau von Boulevards in der Medina vorsahen, wurden rasch aufgegeben, und im selben Jahr wurde die ASM mit Unterstützung der Unesco gegründet.Die ASM bemühte sich, bei Sanierungen die städtische Struktur der Medina zu erhalten und zugleich die Lebensbedingungen der Einwohner zu verbessern. «Uns sind die Menschen wichtiger als die Steine», meint Mouhli. Mitte der 1980er Jahre übernahm die ASM die Leitung eines Pilotprojekts für integrierte Sanierung im Hafsia-Viertel. Bis 1992 wurden 600 Wohnungen renoviert sowie 400 weitere neu gebaut. Dabei wurde das traditionelle Modell zweistöckiger Reihenhäuser mit Innenhof übernommen. Räumlichkeiten für Läden und Büros wurden geschaffen sowie für Einrichtungen wie Krippe, Kindergarten, Schule, Hammam, Krankenstation und Tiefgarage. Baudenkmäler wurden restauriert, Strassen und Leitungsnetze instand gesetzt. Die Kosten von 15 Millionen Dollar finanzierte die Weltbank zu 40 Prozent, den Rest die tunesische Regierung. Dank Sozialwohnungen und günstigen Krediten konnten auch einige arme Familien in der Hafsia bleiben. 46 von ihnen, die über ein monatliches Einkommen von mehr als 150 Dinar (in den achtziger Jahren 450 Franken) verfügten, wurden Wohnungseigentümer. 23 Familien mit weniger als 120 Dinar blieben als Mieter, 65 weitere bedürftige Familien erhielten subventionierte Wohnungen ausserhalb des Viertels. Von einer schlechten Adresse wurde die Hafsia mit der Sanierung zu einem begehrten Wohnviertel. Durch das Interesse von Geschäftsleuten sind die Preise inzwischen gestiegen. Mouhli betont aber, es habe keine Gentrifizierung des Viertels stattgefunden. Wie in der ganzen Medina seien alle sozialen Schichten vertreten.
Ab Mitte der neunziger Jahre sanierte die ASM 600 sogenannte Oukalas; der Begriff bezeichnete ursprünglich Herbergen, die Zimmer an Arbeiter vermieteten. Die baufälligen Gebäude wurden renoviert und zimmerweise an rund 3000 Familien vermietet, Toiletten und Küchen mussten diese sich teilen. Auch Paläste und frühere Koranschulen wurden zu derartigen Wohngebäuden umgemodelt. Über 1200 Familien wurden aus vom Einsturz bedrohten Häusern an den Stadtrand umgesiedelt, wo sie mit einem zinslosen Darlehen eine kleine Wohnung erwerben konnten. 400 Gebäude wurden zudem renoviert. Die Stadt gewährte mit einem Kredit des Arabischen Fonds für wirtschaftliche und soziale Entwicklung zinsgünstige Darlehen für die 1600 betroffenen Familien, die nach der Renovation wieder in ihre ursprüngliche Wohnung zogen.
Kein Ausverkauf der Altstadt
Gebäude von architektonischem oder historischem Wert wie ehemalige Koranschulen werden seit der Renovation etwa als Berufsschulen, Kultur- oder Jugendzentren genutzt. Im Gegensatz zu andern arabischen Städten wie etwa Marrakesch betrieb Tunis keinen Ausverkauf seiner Medina. Ausländer können bis jetzt in der Altstadt keine Häuser erwerben. Die Medina, heute ein lebendiges Viertel im Zentrum von Tunis, ist für viele Menschen als Zeugnis der Vergangenheit wie auch als Wohn-, Einkaufs- oder Arbeitsort von Bedeutung.
Den vollständigen Artikel der NZZ finden Sie hier.
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