Für Rupert Neudeck erlebt der Nordirak "eine der größten Fluchtkatastrophen seit Ruanda 1994". Er habe noch niemals so traumatisierte Flüchtlinge erlebt wie dort, sagte der Menschenrechtler nach seiner Reise in den kurdischen Teil des Landes im DLF. Im Umgang mit der PKK forderte er ein Umdenken.
Christoph Heinemann: Wie umgehen mit gewaltbereiten, vorgeblich oder tatsächlich religiös motivierten Kämpfern? Und - nach den erschreckenden Berichten aus Nordrhein-Westfalen - wie umgehen mit den Flüchtlingsströmen? Die Innenminister von Bund und Ländern suchen in Berlin Antworten.
Wir bleiben bei islamisch verbrämtem Terrorismus und Flüchtlingen. Kurdische Einheiten haben, unterstützt durch US-Luftangriffe, die Terrormiliz IS in der nordsyrischen Enklave Kobane zurückgedrängt. Rund ein Drittel Kobanes soll sich allerdings noch unter IS-Kontrolle befinden.
Aus dem kurdischen Teil des Irak zurückgekehrt ist gerade Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Guten Tag!
Rupert Neudeck: Guten Tag!
Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben das Lager bei der Stadt Sacho im Nordirak besucht. Wie geht es den Menschen dort?
Neudeck: Das ist eine der größten Fluchtkatastrophen, die ich seit Ruanda 1994 erlebt habe. Auf diese Stadt mit 240.000 Einwohnern ist ein Zug von 140.000 Flüchtlingen losgegangen, nachdem die IS sie aus den Gebieten von Sinja, also aus dem Nordirak verjagt hatte, vertrieben hatte, und diese Menschen - das muss man sich mal vorstellen - sind alle irgendwie untergekommen, weil die Bevölkerung dieser kurdischen Gebiete, besonders der Provinzen im Norden von Kurdistan, alle aufgenommen hat, ohne Unterlass, ohne Unterlass. Überall in noch nicht festgelegten Gebäuden, in Schulen, in Turnhallen, überall sind Menschen untergebracht worden, auch in kleinen Lagern. Jetzt beginnt endlich das Einrichten von ganz großen Lagern. Aber erst mal muss man sagen: Diese ganz große Bereitschaft, jesidische, christliche und muslimische Iraker, meistens auch Kurden dort aufzunehmen, ist eine der größten Leistungen der Flüchtlingsaufnahme, die ich je erlebt habe.
Heinemann: Was berichten die Flüchtlinge?
Neudeck: Die berichten ganz Furchtbares. Sie sind im letzten Moment geflohen. Manchmal sind Menschen aus den Familien gerissen worden. Einer Familie ist der Vater gleich erschossen worden. Sie sind wirklich mit äußerster Brutalität behandelt worden. Sie berichten, dass sie gezwungen werden sollten zur Zwangskonversion - das sind ja meistens Jesiden und Christen, die da erst mal kamen in der ersten Welle -, also etwas, was man sich überhaupt nicht vorstellen kann, und diese Menschen sind total traumatisiert. Ich habe Flüchtlinge schon an vielen Orten der Welt erlebt. Ich habe noch nie Menschen erlebt, die so traumatisiert sind von diesem Erlebnis, dass sie aus ihren Heimatgebieten, ihrer Kultur, ihrer Lebensweise einfach mit einem Schlag herausgeworfen und herausgeschmissen wurden.
Heinemann: Sind internationale Hilfsorganisationen an Ort und Stelle?
Neudeck: Es gibt Gott sei Dank die UNO, die auch kräftig an der Arbeit ist, die jetzt versucht, insgesamt drei große Lager dort einzurichten. Das ist natürlich eine feldmarschmäßige Arbeit, die gemacht werden muss, weil wir alle im Wettlauf mit der Zeit sind. Ich habe noch vor zwei Nächten erlebt, dass der wahnsinnige Regen runterkommt und damit auch die Zelte umspült. Hier müssen unbedingt die Zelte alle auf betonierte Fundamente gesetzt werden. Das ist ein Wettlauf mit der Zeit, weil innerhalb von vier bis fünf Wochen beginnt dort auch der Winter mit Temperaturen, die ziemlich eisig sind. Alle sind daran interessiert und arbeiten ganz kräftig daran mit, auch UNICEF mit seinen Schulen, die es jetzt dort einrichtet, damit wir keine Bilder bekommen zu Weihnachten von erfrierenden kurdischen Kindern aus dieser Gegend.
Heinemann: Herr Neudeck, haben Sie Menschen getroffen, die als freiwillige Kämpfer in den Irak zurückkehren wollen, oder nach Syrien, um IS zu bekämpfen?
Neudeck: Das ist eher so, dass junge Leute sich vorwerfen, dass sie nicht mit der Faust oder mit dem Messer oder mit was sie immer hätten sich nicht gewehrt haben. Das sind diese Reflexe. Es gibt eine umgekehrte Bewegung. Die hat damit zu tun, dass in der Türkei alles wieder leider durcheinandergeraten ist zwischen Kurden und den Türken und der türkischen Regierung. Es gibt auch eine Bewegung von Kobane-Flüchtlingen, die den kleinen Grenzstreifen der Türkei überqueren und dann ganz flugs nach Sacho, also in den nordirakischen kurdischen Staat hineinkommen. Ich erlebte das jetzt mit 6.000, die auch noch dazugekommen sind. Diese Bewegung hat der kurdische Staat auch noch zu bewältigen.
Heinemann: Überhaupt: Wie haben Sie die Rolle der Türkei in diesem Konflikt jetzt an Ort und Stelle erlebt?
Neudeck: Ich muss weiter sagen, dass die Türkei ein bisschen zu Unrecht gescholten wird, weil sie alle aufnimmt. Sie hat bei Kobane innerhalb von drei Tagen insgesamt 150.000 Menschen aufgenommen. Wir alle wissen, dass es immer noch Berührungsängste gegenüber den Kurden gibt und man nicht so ganz gerne bereit ist, mehrheitlich Kurden aufzunehmen. Aber die Türkei hat sich an die äußersten Bedingungen dieser Aufnahme gehalten. Dass sie jetzt nicht gleich einmarschiert bei Kobane, das kann man schließlich als Deutscher und als Europäer auch verstehen. Das ist ja eine schwierige Situation. Ich bin nicht derjenige, der immer mit dem Finger auf die Türkei zeigt und sagt, was die da alles falsch machen.
Heinemann: Der Türkei wird allerdings vorgeworfen, sie schaue zu, jedenfalls das türkische Militär, sie bekämpfe lieber die bewaffnete kurdische PKK als die IS-Terrorbande, deren Aufstieg sie ja unter Umständen sogar befördert habe oder billigend in Kauf genommen hätte. Wird darüber auch unter den Flüchtlingen diskutiert und gesprochen?
Neudeck: Ja. Die PKK ist weiter natürlich ein Faktor, den man nicht wegdiskutieren kann, und es wäre auch gut, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft jetzt darauf verständigt, unabhängig von dem Allgemeinurteil über die PKK in Vergangenheit und Gegenwart, dass man jetzt anerkennt, dass das die einzige Formation ist, die gegenwärtig diesen Verbrecherbanden der ISIS standhält und standhalten kann, wie man jetzt aus den letzten Stunden und Tagen in Kobane erlebt. Ich glaube, dass ein Umdenken unbedingt notwendig ist.
Heinemann: Herr Neudeck, Sie sprachen eben von Zwangskonversionen. Wie islamistisch oder wie islamgeprägt ist eigentlich diese IS? Was berichten die Flüchtlinge?
Neudeck: Ich glaube, so gut wie gar nicht, außer dass sie das Korsett anziehen und sich islamisch nennen. Ich denke, das ist ein Benutzen einer der großen abrahamitischen Religionen, die wir haben, und wir sollten nicht den Fehler machen und damit auch unsere muslimischen Mitbürger beleidigen, dass wir sie in irgendeiner Weise als radikal-islamisch bezeichnen. Das ist ja doch ein Ehrentitel. Und ich denke, es wäre wichtiger, dass wir sie bei dem Namen benennen, der in Deutschland dafür zuständig ist, nämlich dem Namen Verbrecher, Verbrecherbande, denn so etwas haben wir auf der Welt mit einer Formation von Militärs noch nicht erlebt, die an Enthauptungen, Entführungen, Massenvertreibungen, Massenkonversionen beteiligt ist.
Heinemann: Gibt es eine Alternative zu einem bewaffneten Kampf gegen diese IS?
Neudeck: Im Moment, denke ich, nicht. Aber wir müssen gleichzeitig natürlich immer wieder sehen, das Militärische allein, der Schutz der Menschen, der kann im Moment nur durch Waffen und Peschmerga aufrecht erhalten werden. Aber man muss auf jeden Fall sehen, dass der irakische Staat gerettet wird, der ja in den Seilen hängt. Es muss auf jeden Fall eine Politik her für die syrische Bevölkerung, die ja unter dieser ISIS ganz besonders leidet, die wir im Moment vergessen haben und von der wir auch keine Informationen haben. Das heißt, es ist eigentlich eine größere Stunde für die politische Aufarbeitung dieser Krise als für die militärische.
Heinemann: Sie sprachen über den irakischen Staat. Wie irakisch ist denn der kurdische Norden des Landes noch?
Neudeck: Er ist, glaube ich, sehr loyal. Er hat sich unglaublich vernünftig benommen. Barsani, der Präsident des Landes, hat ja ein Referendum, was fast schon beschlossen war und schon datiert war, wieder weggenommen. Ich glaube, dass die kurdische Entität im Norden des Irak in aller Weise staatsmännisch sich gibt, wie man das vor 20 Jahren von einer kurdischen Einheit überhaupt nicht für möglich gehalten hat. Ich glaube auch, dass die staatlichen Funktionen, die ich dort beobachtet habe, die staatliche Infrastruktur in einer Weise intakt ist, wie ich mir das - ich hatte das Land 20 Jahre nicht gesehen - gar nicht habe vorstellen können. Es ist wirklich so, dass der Nordirak natürlich eine Aspiration hat. Die Kurden wollen gerne eine Heimstatt haben. Aber im Moment ist das nicht das große Thema. Das große Thema ist erst mal, wie man mit den Flüchtlingsmassen fertig wird und wie man denen eine Perspektive auf Rückkehr in den Nordirak und nach Syrien wieder eröffnet.
Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Neudeck: Auf Wiederhören!
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Das vollständieg Interview im DLF finden Sie hier.
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