Die Überraschung ist ausgeblieben. Was viele Beobachter seit dem vergangenen Jahr befürchtet haben, nimmt Gestalt an: Benjamin Netanjahu ist alle Sorgen los, sich wegen dreier Korruptionsverfahren vor Gericht zu verantworten und mit einer Gefängnisstrafe rechnen zu müssen.
Zu dieser „carte blanche“ hat ihm „Benny“ Gantz verholfen. Er hat nicht nur seine „Blau-Weiß“-Partei endgültig gesprengt, sie und sich selbst dem öffentlichen Gespött preisgegeben und Warnungen in den Wind geschlagen, der Arglist und der Tücke Netanjahus zu erliegen. Nein, er hat dafür gesorgt, dass die Rechtsstaatlichkeit eine weitere Niederlage hinnehmen muss. Die Mahnung verhallt, das Parlament in keinen „Fanclub des Kabinetts“ zu verwandeln. Denn von einer eindrucksvollen parlamentarischen Opposition kann zumindest vorerst keine Rede sein.
Gantz‘ Behauptung, das Land brauche endlich eine handlungsfähige Regierung, stellt seine Entscheidung auf den Kopf: Er hat es satt, landauf landab als Repräsentant eines Mitte-links-Bündnisses diffamiert zu werden. Dass er von Netanjahu als Verräter gebrandmarkt und sexueller Vergehen beschuldigt wurde, obwohl er Gespräche mit der arabisch geführten „Vereinigten Liste“ lediglich andeutete, ist zu den Akten gelegt. Gantz ist keine tragische Figur, sein Wahlslogan „Wir müssen vorankommen“ fehlte die strategische Substanz.
Wenn die Knesset Netanjahu erneut zum Regierungschef wählt, steht Gantz für die Übernahme des Außenministeriums bereit. Dabei gibt es keinen Zweifel, dass sich Netanjahu wie bisher alle außenpolitischen Entscheidungen vorbehält. Große politische Differenzen zwischen ihm und Gantz gehören ins Reich der Illusionen. Indem diesem der brutale Machtinstinkt fehlt und seine Überzeugungen dem politischen Wettkampf kein Eigengewicht verleihen, bestätigt er jene Hypothese, dass sein Wettstreit mit „Bibi” lediglich persönlichen >bneigungen entsprang. Gantz hat überdies Reuven Rivlin der Lächerlichkeit preisgegeben, nachdem ihn dieser 24. März mit der Kabinettsbildung beauftragte. Doch vielleicht interessiert das niemanden in einer Zeit, in der es parteipolitisch eh drunter und drüber geht.
Weil Rivlin im kommenden Jahr nicht wieder kandidiert, wird Netanjahu als Staatspräsident einrücken. Hatte das Parlament erfolglos einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen wollen, einem Beschuldigten das Recht zu entziehen, sich zur Wahl als Ministerpräsident zu stellen, kann er nunmehr 2021 bruchlos in das neue Amt überwechseln. Damit ist jedem Gerichtsverfahren die Basis entzogen. Netanjahus Sieg ist vollständig.
In seiner Ansprache hat Gantz seine Bewerbung als vorläufiger Sprecher der Knesset damit begründet, heute sei nichts normal. Die Warnung seines bisherigen Mitstreiters Yair Lapid, den Corona-Virus für kriminelle Machenschaften zu missbrauchen, verpufft. Dass die palästinensische Bevölkerung in der Westbank von Corona befallen ist, beschäftigt sowieso niemanden. Dazu passt, dass die israelische „Zivilverwaltung“ unter militärischer Begleitung am 24. März in einem palästinensischen Dorf im nördlichen Jordantal Wassertanks, Planen für acht Zelte, einen Stromgenerator und zwei Feldlazarette niedergerissen hat.
Quelle: https://www.jrbernstein.de/blog-1/2020/3/27/carte-blanche-fr-netanjahu
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