Das Mittelmeer ist zum Massengrab für Flüchtlinge geworden. Die Ausländerfeinde haben an Zulauf und an Aufmerksamkeit gewonnen. Aber niemand sollte glauben, dass die Mehrheit der Deutschen noch länger zusehen will, wie mit den Flüchtlingen die europäische Idee in den Fluten versinkt.
Im Herbst 2005 besuchte ich die spanische Enklave Ceuta an der marokkanischen Küste. In der Nacht zuvor hatten Hunderte Flüchtlinge versucht, die Grenzanlagen zu überwinden, die schon damals an die ehemalige innerdeutsche Grenze erinnerten und seither noch verstärkt worden sind: zwei Stacheldrahtzäune, drei und sechs Meter hoch, dazwischen eine Straße, auf der die Jeeps der Guardia Civil patrouillierten, Wachttürme natürlich, Videokameras, Nachtsichtgeräte. Wenn fünfhundert Menschen mit selbstgebauten Leitern auf den Grenzzaun losstürmen, kommen fünfzig durch – das war das Kalkül. Ein paar verbluteten jedes Mal, bei jedem dieser Überfälle, die übrigen wurden mit Lkw in die Wüste zwischen Marokko und Algerien transportiert und wie Vieh von der offenen Ladefläche getrieben – bestenfalls mit ein paar Wasserkanistern im buchstäblichen Nichts.
Blut an den Grenzen Europas
Ich fuhr nicht direkt zum offiziellen Grenzübergang, an dem ich mit meinem deutschen Pass sofort durchgewinkt worden wäre. Ich ging zum Zaun und sah, was sich mir stärker eingeprägt hat als alle Nachrichten von Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer seither, von zweihundert oder vierhundert oder sechshundert Toten. Das sind nur Zahlen, wir sehen die Ertrunkenen ja nicht, wir kennen nicht ihre Geschichten. Deshalb vergessen wir diese Zahlen so schnell und mit ihnen die Versprechen der Europäischen Union, solche Katastrophen künftig verhindern zu wollen. Aber jetzt sah ich das Blut an den Grenzen Europas, das bis heute immer weiter tropfende Blut.
Vage erinnern wir uns noch an das Werbeplakat der Modefirma Benetton mit dem heillos überfüllten Schiff vor Bari, an die 911 Flüchtlinge, die am Strand von Boulouris gelandet sind, oder an das Totenschiff, das an die Küste von Lampedusa gezogen wurde: Alle Passagiere waren ertrunken. Sie machten schon vor fünfzehn Jahren ähnliche Schlagzeilen wie diese Woche die Katastrophe vor der libyschen Küste. Die Ankündigungen sind seither immer dieselben: Schlepperbanden bekämpfen, die Seenotrettung ausbauen, Fluchtursachen beseitigen, das europäische Asylrecht vereinheitlichen. Geschehen ist: das Gegenteil. Die Opferzahlen steigen sogar von Jahr zu Jahr, so dass Experten inzwischen von mehreren Zehntausenden Flüchtlingen ausgehen, die im Mittelmeer ertrunken sind.
Es geht nicht um Kochrezepte
Schlepper? Richtig, es sind zumeist skrupellose Verbrecher, wenn nicht Mörder, und man muss sie zur Rechenschaft ziehen; aber es wird sie geben, solange Menschen keine legale Möglichkeit haben, vor Elend, Unterdrückung und Tod zu fliehen.
Seenotrettung? Mit der Gründung der sogenannten Frontex-Agentur hat die EU dafür gesorgt, dass die Flüchtlingsboote immer längere, immer gefährlichere Routen in Kauf nehmen, um den europäischen Kriegsschiffen auszuweichen. Aus den zwölf Kilometern, die Spanien und Marokko an der schmalsten Stelle trennen, wird deshalb oft eine Odyssee von mehreren hundert Kilometern. Das einzige Programm, das effektiv Menschenleben gerettet hat, war die italienische Aktion Mare Nostrum, die am lautesten von Deutschland kritisiert und nach einem Jahr mangels EU-Finanzierung eingestellt worden ist.
Hier finden Sie den vollständigen Artikel von Navid Kermani erschien in der FAZ-online und in der FAZ am 22.04.2015.
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