Wie soll Europa mit der Flüchtlingskrise umgehen? Für den ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Prodi liegt das Problem in Libyen: "Wir müssen die dortigen Machthaber an den Verhandlungstisch bringen."
Der EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage war eine Enttäuschung. Zwar soll mehr Geld in die Frontex-Grenzschutzoperation Triton gesteckt werden. In der Summe wird jedoch nicht mehr Geld zur Verfügung stehen, als Italien für die Vorgängermission "Mare Nostrum" aus eigener Tasche bezahlt hat. Nur das Einsatzgebiet wird kleiner bleiben. Und es werden weiter Menschen sterben.
Italiens Ex-Premier Romano Prodi war fünf Jahre lang Präsident der EU-Kommission. "Es ist uns in all den Jahren nicht gelungen, den anderen Staaten klarzumachen, dass die italienischen Grenzen die der Europäischen Union sind", sagt er.
Ob die Zerstörung von Schlepperbooten, beschleunigte Asylverfahren in Italien und Griechenland oder die Entsendung von Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen in Drittländer - Prodi sieht den guten Willen, zweifelt aber an der Durchführbarkeit so mancher neuen Maßnahme.
Der Ex-Kommissionspräsident plädierte schon 2004 dafür, im Rahmen des sogenannten Barcelona-Prozesses bilaterale Projekte in der libyschen Wüste aufzubauen, um Flüchtlingen dort eine Zukunft zu ermöglichen. Es war Prodi, der den libyschen Diktator Gaddafi damals in Brüssel empfing und damit hoffähig machte. Dafür wurde er harsch kritisiert. Doch auch heute ist der Wirtschaftsprofessor überzeugt: Nur wenn es gelingt, Libyen langfristig zu befrieden, kann auch die Flüchtlingsfrage gelöst werden.
SPIEGEL ONLINE: Die Ergebnisse des EU-Sondergipfels zur Flüchtlingspolitik waren dürftig. Lässt die Europäische Union Italien im Stich?
Prodi: Nein, und es macht auch wenig Sinn, in eine Opferrolle zu verfallen. Das Problem ist: Es gibt keine europäische Flüchtlingspolitik. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass wir es mit einem endlosen Problem zu tun haben, dem man mit langfristigen Strategien begegnen muss.
SPIEGEL ONLINE: Obwohl die großen Migrationsbewegungen schon vor Jahrzehnten vorausgesagt wurden und seit geraumer Zeit eine Flüchtlingstragödie auf die andere folgt?
Prodi: Es ist eine traurige Tatsache, dass erst etwas unternommen wird, wenn etwas Schlimmes passiert. Und leider sind die nationalen Interessen in der EU oft größer als die kollektiven. Das hat das Auftreten des britischen Premierministers Cameron auf dem Gipfel recht deutlich gezeigt. Er erteilte - kurz vor den Wahlen zum Unterhaus - dem Asylanspruch von Flüchtlingen in seinem Land eine Abfuhr. Die solle doch bitte Italien aufnehmen.
SPIEGEL ONLINE: Wie aussichtsreich ist die Debatte über eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Europa? Könnten die Dublin-Verordnungen gekippt oder zumindest modifiziert werden, wie es Kanzlerin Merkel angedeutet hat?
Prodi: Es wäre wünschenswert, aber ich sehe dafür derzeit keine Mehrheiten. Die Frage der Verteilung hängt stark von der Wirtschaftslage der Länder ab, auch von der Zahl der Flüchtlinge. Angesichts der demografischen Entwicklung sollte man davon ausgehen, dass wir die Zuwanderung bewältigen können. Ich erinnere mich gut an die Panikmache der Populisten, als verstärkt Osteuropäer nach Italien kamen. Etwa eine Million Rumänen und eine halbe Million Albaner leben heute dort. Es gibt Probleme, aber wir haben es hingekriegt.
SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von dem Vorschlag im 10-Punkte-Plan, Schlepperboote zu zerstören, bevor sie in See stechen?
Prodi: Wie soll das in der Praxis funktionieren? Dann müsste man ja auf libyschem Terrain agieren, denn von da starten 90 Prozent aller Flüchtlingsschiffe. In einem Land also, in dem geschätzt vier Millionen Waffen kursieren, wo zwei konkurrierende Regierungen, gewalttätige Milizen und mächtige Beduinenführer um Einfluss ringen - und wo es keine Sicherheitsbehörden oder Verwaltungsstrukturen gibt, mit denen man kooperieren könnte. In Libyen herrscht Anarchie. Und wenn Europa das Problem Libyen nicht löst, dann wird das Flüchtlingsproblem unlösbar.
SPIEGEL ONLINE: Was schlagen Sie vor?
Prodi: Wir müssen eine internationale Konferenz zu Libyen auf die Beine stellen. Das ist derzeit nicht einfach, auch weil das Verhältnis zu Russland sich verschlechtert hat. Aber es ist die Pflicht der Großmächte, an Ägypten, die Türkei und die Golfstaaten zu appellieren, die Machthaber in Libyen an den Verhandlungstisch zu bringen. Auch wenn sie selbst verschiedene Kräfte in Libyen unterstützten. Ein gemeinsames Interesse gibt es: Ob die USA, China oder Russland - sie alle fürchten den Terrorismus, der in Gestalt des "Islamischen Staates" bereits in Libyen verankert ist.
SPIEGEL ONLINE: Italien hat ein besonderes Verhältnis zu seiner ehemaligen Kolonie. Sie waren als Uno-Vermittler für Libyen im Gespräch, man warf Ihnen aber Ihre einst guten Kontakte zu Gaddafi vor. Sollte Europa überhaupt mit Diktatoren verhandeln?
Prodi: Mit Gaddafi gab es ständig Spannungen. Jedes Mal, wenn Probleme auftauchten, drohte er damit, Flüchtlingsschiffe in Richtung Italien zu schicken. Aber es gab auch Abmachungen. Heute haben wir es mit Menschenhändlern zu tun, die aktiv an der Destabilisierung des Landes arbeiten, weil sie davon profitieren. Es gibt keine Verhandlungen und niemanden, der ihrem Tun ein Ende setzt. Libyen hat keine nationale Identität, die verschiedenen Fraktionen wurden lange Zeit nur von der Autorität Gaddafis zusammengehalten.
SPIEGEL ONLINE: Eine erneute militärische Intervention in Libyen schließen Sie aus?
Prodi: Niemand hat derzeit die Absicht oder die Mittel, militärisch einzugreifen. Es gibt Drohnen und Kampfflugzeuge, aber Kriege werden noch immer mit Soldaten gemacht. Auch in den USA will niemand mehr die beflaggten Särge der Männer sehen, die in fernen Kriegen gefallen sind. Wer glaubt, er könne mit Waffengewalt den "Islamischen Staat" bekämpfen, wird sehen, dass er ihn nur etwas nach Süden verdrängt. Der Terrorismus ist ein globales Problem. Wir müssen eine politische Lösung für Libyen finden.
Hier finden Sie das vollständige Interview von Annette Langer erschien in Spiegel ONLINE am 06.05.2015.
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