Während US-Vizepräsident Mike Pence sich in Jerusalem mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu traf, ereignete sich in den palästinensischen Gebieten nur wenige Kilometer entfernt eine stille Revolution. Still, weil dabei keine Raketen fliegen und keine Steine geworfen werden. Still, weil keine Fernsehteams sich dafür zu interessieren scheinen. Still, weil die Folgen nicht sofort sichtbar werden. Der Grund: Das Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNRWA) hat nicht mehr genügend Geld. Konkret bedeutet das: Schulen müssen vermutlich dicht machen, Gesundheitsstationen schließen.
Fast 300 Millionen Dollar fallen jedes Jahr weg
Mit einem eindringlichen Appell hat Pierre Krähenbühl, der Leiter des Hilfswerks, sich jetzt an die Weltgemeinschaft gewandt. Bereits im November 2017 hatte er davor gewarnt, dass unzähligen palästinensischen Kindern auch das letzte bisschen Sicherheit genommen würde, wenn tatsächlich eintritt, was Präsident Trump angekündigt hatte: Ein Zahlungsstopp der USA. Das ist nun geschehen. »Wenn die Amerikaner tatsächlich ihre Zuwendung an UNRWA zurückfahren, werden sie verantwortlich sein für eine humanitäre Katastrophe«, hatte die Nahostexpertin Bettina Marx zuvor gesagt.
Um das zu verstehen, muss man sich die Lage vor Ort verdeutlichen. Das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge versorgt rund fünf Millionen palästinensische Flüchtlinge im Westjordanland und im Gazastreifen, aber auch in Jordanien, Syrien und dem Libanon. In den von Israel besetzten Gebieten fungiert es quasi als staatlicher Dienstleister: Schulen und Krankenhäuser, Gesundheitsstationen und Ausbildungsbetriebe werden von UNRWA betrieben. Dort arbeiten so gut wie keine westlichen Hilfskräfte, sondern in erster Linie Palästinenser.
Nachdem Präsident Trump entschieden hatte, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen, drohte er damit, Zahlungen an die Palästinenser zu stoppen, wenn diese nicht zu Friedensverhandlungen mit Israel bereit seien. Nun friert die US-Regierung tatsächlich bereits zugesagte Mittel an das UN-Hilfswerk ein – auf unbestimmte Zeit. Für 2018 wollen die USA nur noch 60 Millionen Dollar an Unterstützung zahlen; bisher waren es mehr als 350 Millionen US-Dollar jährlich gewesen.
Das UN-Hilfswerk bittet nun sogar Einzelpersonen um Unterstützung, um weitermachen zu können. In dem Hilferuf von Pierre Krähenbühl heißt es: »Auf dem Spiel steht der Zugang zu Schulen von 525.000 Jungen und Mädchen, auf dem Spiel steht ihre Zukunft. Auf dem Spiel steht der Schutz von Millionen palästinensischer Flüchtlinge, die auf Lebensmittelhilfe angewiesen sind. Auf dem Spiel steht der Zugang dieser Geflüchteten zu grundlegenden Gesundheitsdiensten, darunter Geburtshilfen und andere lebensrettende Einsätze. Auf dem Spiel stehen die Rechte und die Würde eines ganzen Volkes.«
Warum Palästina die Welt interessieren sollte
Das Schicksal der Palästinenser sollte die Welt interessieren. Schlichtweg aus humanitären Gründen. Aber es gibt noch weitere, triftige Gründe, sie zu unterstützen:
Erstens: Es gibt da einen alten Spruch, an dem viel Wahres ist: »Die Geschichte lehrt dauernd, aber niemand hört ihr zu«. Die Vereinten Nationen setzen nicht zum ersten Mal einen Hilferuf an die Welt ab. Sie taten dies auch im Dezember 2014. Damals konnte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen keine Lebensmittelgutscheine mehr an syrische Flüchtlinge ausgeben, weil viele Geberländer bereits zugesagtes Geld nicht überwiesen hatten. Was folgte, ist bekannt: Hunderttausende Flüchtlinge machten sich auf den Weg gen Europa. Gut möglich, dass das demnächst auch Palästinenser versuchen, wenn nicht andere Geberländer für die USA in die Bresche springen.
Zweitens: Die USA sind bisher der größte Geldgeber des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge gewesen, gefolgt von der Europäischen Union – und Saudi-Arabien. Den Einfluss Saudi-Arabiens zu unterschätzen, wäre fatal. Schon jetzt finanziert das saudische Königreich weltweit Moscheen und andere Projekte. Vielerorts bleibt es jedoch nicht bei der Finanzierung. Das wahabitische Gedankengut, das dem des IS in nichts nachsteht, wird zugleich mitverbreitet. Die Folge: Der einst liberale Islam in Indonesien, aber auch in den Balkanländern wird verdrängt – zugunsten eines radikalen, engstirnigen Islamverständnisses. Ist es wirklich wünschenswert, dass noch eine Region (in diesem Fall das Westjordanland und Gaza) ganz von saudischen Gönnern abhängig wird?
Drittens: Je hoffnungsloser ein Mensch ist, je weniger Perspektiven er für sich selbst und für seine Familie sieht, desto anfälliger wird er für extremistische Ansichten. Nun wird freilich nicht aus jedem hoffnungslosen Palästinenser ein Terrorist, doch die Entscheidung von Präsident Trump, den Vereinten Nationen die Gelder zu streichen, wird den radikalen Kräften Aufwind geben. Schon jetzt gibt es in Gaza längst radikalere Gruppen als die Hamas. IS-Zellen haben sich dort eingenistet. Sie profitieren, wenn Jugendliche nicht mehr zur Schule gehen können, wenn Väter aufgrund der finanziellen Notlage ihre Arbeit als Lehrer, bei einer Gesundheitsstation oder in einem UN-Ausbildungsbetrieb verlieren. All das macht deutlich: Pierre Krähenbühl von den UN übertreibt nicht, wenn er sagt: Es steht viel auf dem Spiel. Das gilt für alle Seiten.
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