Verlag C.H. BECK (www.chbeck.de), München 2022, Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, Geb., 528 Seiten mit 52 Abbildungen, ISBN 978-3-406-78177-3, € 34,00
Die Autorin war bis zum Ruhestand Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies; für ihr Engagement wurde sie vielfach geehrt. In diesem Verlag sind bereits ihre Standardwerke Geschichte Palästinas (2015) und Geschichte des Islam (Neuausgabe in Vorbereitung) erschienen.
In vorliegendem Werk legt Gudrun Krämer die erste umfassende Biographie eines der berühmtesten Reformers und Gründers einer religiös-politischen Bruderschaft in der muslimischen Welt, des Ägypters Hasan al-Banna, vor. Aufgrund von zahlreichen Quellen, wovon im Buch annähernd einhundert Seiten mit Anmerkungen und Literaturangaben zeugen, zeichnet sie sein Leben und Wirken nach. Nachdem die Schlagworte „Muslimbrüder“ und „Muslimbruderschaft“ allenthalben in den politischen Nachrichten auftauchen, bestand nicht nur in der Fachschaft das Desiderat nach einer wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Bewegung.
Gudrun Krämer erschließt die Menge des Materials in neun großen Kapiteln mit zahlreichen Untergliederungen: 1. Bildung und Frömmigkeit im ländlichen Raum, 2. Die Zeit der Orientierung, 3. Baupläne: Die Muslimbrüder in Ismailiyya, 4. Grundmauern: Die Muslimbrüder in Kairo, 5. Ausbau: Sport, Scouts und Studenten, 6. Design: Der Islam der Muslimbrüder, 7. Umbauten: Die Phase der Gestaltung, 8. Ein Haus mit vielen Wohnungen, 9. Einsturzgefahr: Das Ende einer Epoche.
Hasan al-Banna kam 1906 in dem kleinen Ort Mahmudiyya unweit von Alexandria als Sohn eines Bauern mit einigen Hektar Landbesitz zur Welt. Seine Mutter entstammte einer kaufmännischen Familie mit einer gewissen religiösen Bildung, was sich offensichtlich auf den Jungen niederschlug. Mit vier Jahren bereits besuchte er eine Koranschule, lernte den Koran auswendig, wurde in Koranrezitation unterrichtet und entwickelte eine Leidenschaft für religiöses Wissen, das fortan seinen Lebensweg begleitete.
Gudrun Krämer versetzt uns in die Zeit seines Heranwachsens: Das unter osmanischer Herrschaft stehende Land wurde 1882 von den Ägyptern besetzt, wenngleich es völkerrechtlich bis 1914 Teil des Osmanischen Reichs blieb. Folge war, dass der Kolonialismus sich auf alle Felder legte. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wirkten sich die Strömungen Sufismus, arabische Renaissance (Nahda) und islamische Reform, ägyptischer Patriotismus und arabischer Nationalismus auch auf Hasan al-Banna aus. In ihren Ausführungen zieht die Autorin Vergleiche zu anderen religiösen Bewegungen, Strömungen und Reformern der Zeit.
Hasan al-Banna ließ sich zum Lehrer ausbilden und wurde 1927 nach Ismailiyya versetzt. Hier gründete er mit einer Gruppe junger Männer von einfacher Herkunft und Bildung die Muslimbruderschaft. Einer der Beteiligten beschreibt das Ereignis: Nach einer seiner Lehrstunden sprach Hasan al-Banna zu seiner Schülerschar von der Erniedrigung des Islam, dem Imperialismus und dem Vorbild des Propheten, der mit seinen Gefährten gleichsam klein angefangen hatte. Sie umarmten sich und sprachen ihm nach: „Wir geloben Gott, dass wir Brüder im Herrn sein werden“; er wählte für sie den Namen „Muslimbrüder“. 1932 wurde al-Banna auf eigenen Wunsch an eine Grundschule in Kairo versetzt, hier etablierte sich auch die Vorstandschaft der Muslimbrüder. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebte Ägypten einen politischen und kulturellen Wandel und bis zum Tode Hasan al-Bannas 1949 eine besonders unruhige Phase in seiner Geschichte.
In der Anfangszeit konzentrierten sich die Muslimbrüder auf islamische Erziehung und den Kampf gegen die Unmoral; al-Banna gründete eine Madrasat (Koranschule) für berufstätige Erwachsene. In Ismailiyya forcierte er den Bau einer eigenen Moschee sowie einer Knabenschule. Nach und nach gelang den Muslimbrüdern eine landesweite Ausbreitung. Obwohl sich die Muslimbrüder für religiöse Bildung einsetzten, die christliche Mission bekämpften und gute Werke taten, erregte ihr anfangs bescheidener Erfolg neben Anerkennung auch Misstrauen und Neid, Verleumdungen machten die Runde.
Zeit seines Lebens setzte al-Banna seine Missionsarbeit fort, er unterrichtete, schrieb Artikel, hielt Reden. Der von ihm gepriesene Islam war klar und jedermann zugänglich – dem einfachen Dorfbewohner wie dem gebildeten Städter. 1938 legte al-Banna seine Islamauffassung in einer Rundschrift „Instruktionen“ vor, die, später verschiedentlich kommentiert und annotiert, als „Katechismus der Muslimbrüder“ angesehen wurde.
Auch heute aktuell sind die Ausführungen zur „Islamisierung von Staat und Gesellschaft“. 1924 wurde in der Türkei das Kalifat abgeschafft und es stellte sich die Frage, ob der Koran eine bestimmte Herrschaftsform vorschreibt oder das Kalifat die einzig legitimierte sei. Al-Banna bestand darauf, dass die Wiedereinführung des Kalifats das Ziel ist, allerdings erst am Ende eines langen Prozesses der Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Dafür erntete er heftige Kritik von Intellektuellen und Literaten, wie dem bekannten ägyptischen Schriftsteller Taha Husain, dessen Werke in Übersetzung auch auf dem deutschen Buchmarkt präsent sind.
Ebenso interessant ist die Anschauung al-Bannas über die Politik der Muslimbrüder, die er in einem Brief von 1934 an den ägyptischen König offenbart: „Der Islam hat eine Politik, und sie umfasst die Glückseligkeit in dieser Welt und das jenseitige Heil.“- 1938 bekräftigte er in der ersten Studentenkonferenz der Muslimbrüder den allumfassenden Charakter des Islam, der keine Trennung zwischen Religion und Politik zulasse, vielmehr erst durch die Politik vervollständigt werde.
Ende der 1930er Jahre erlaubte der stetige Aufstieg der Bruderschaft in Kairo den Umzug in ein modernes Viertel, gekrönt vom Kauf einer luxuriösen Villa 1944. – Die Autorin wirft des Weiteren ein Licht auf die politische Lage nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Nahen Osten. Unruhen und Terroranschläge wurden den Muslimbrüdern angelastet. Hasan al-Banna versuchte noch vergeblich, die drohende Auflösung der Muslimbruderschaft durch das Innenministerium abzuwenden. Am 8. Dezember 1948 jedoch wurde sie verkündet. Zu dieser Zeit zählten die Muslimbrüder mindestens 100.000 Mitglieder in mehr als 1000 Zweigstellen. Es gab zahlreiche Verhaftungen, denn die Muslimbrüder wurden beschuldigt, mit terroristischen Mitteln einen Umsturz vorzubereiten. - Am 12. Februar 1949 abends wurde Hasan al-Banna auf der heutigen Ramses-Straße niedergeschossen, als er das Haus des Vereins Muslimischer Junger Männer verließ, um nach Hause zu fahren. Kurz darauf erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Gudrun Krämer zieht am Ende ihrer Ausführungen das Fazit:
„Hasan al-Bannas Tod brachte das Gebäude nicht zum Einsturz, das er als Architekt entworfen und als Baumeister gemeinsam mit anderen errichtet hatte …. Als Begründer des modernen Islamismus blieb er eines der wichtigsten Vorbilder nicht-jihadistischer Islamisten zwischen Marokko und Malaysia.“
Das Studium dieser fundierten Biographie lohnt sich, sie macht mit einem wichtigen Kapitel in der Geschichte des modernen Islam vertraut. Dank an die Autorin, den Verlag und alle Beteiligten an der Edition.
Helga Walter-Joswig
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