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29.06.2022

 

Muriel Mirak-Weißbach, Retter oder Täter? Ein General zwischen Staatsräson und Moral: Otto Liman von Sanders und der Völkermord an den Armeniern

 

 

Mit Beiträgen von Tessa Hofmann, Constantin Makris, Theodor Malade und Helmut Donat, Aus dem Englischen von Ortrun Cramer, Schriftenreihe Geschichte & Frieden – Bd. 49, Hrsg.  Dieter Riesenberger und Wolfram Wette, Donat Verlag Bremen (www.donat-verlag.de), 2022, ISBN 978-3-949116-08-7, 208 Seiten mit 43 Abbildungen, Hardcover € 16,80

 

Die Autorin, Journalistin und Schriftstellerin, wurde in Winchester, Mass./USA als Tochter armenischer Eltern, die den Völkermord an den Armeniern von 1915 überlebt hatten, geboren. Nach ihrem Studium wirkte sie u.a. als Dozentin für Anglistik an der Universität Mailand. Später publizierte sie über politisch-kulturelle Entwicklungen in der arabischen und islamischen Welt. In den vergangenen zehn Jahren widmete sie sich zusehends der Geschichte und Kultur Armeniens.  – Otto Liman von Sanders / Kgl. Preuss. General der Kavallerie – Kaiserl. Osmanischer Marschall /Der Sieger von Gallipoli / geb. 18. Febr. 1855 - gest. 22. Aug. 1929

 

Diese Inschrift findet sich auf einem Grabstein für die Eheleute Otto und Amelie Liman von Sanders im berühmten Alten Friedhof zu Darmstadt. Der Streit um dieses Ehrengrab hat die Autorin u.a. bewogen, vorliegendes Buch zu schreiben. Liman von Sanders wirkte in einer Zeit, die schicksalhaft für den Nahen Osten wurde, deshalb möchten wir es unseren Mitgliedern vorstellen.  

 

In ihrem Prolog und dem Epilog Dank beschreibt die Autorin ausführlich die Entstehung ihres Werkes. Denn just 100 Jahre nach Beginn des Völkermords an den Armeniern (1915) hat der Magistrat der Stadt Darmstadt der letzten Ruhestätte des Generals und Ehrenbürgers der Stadt trotz vieler Proteste den Status als Ehrengrab aberkannt. Die Begründung war seine Zugehörigkeit zum Militär. Ein deutsch-kanadischer Historiker, unterstützt von weiteren Persönlichkeiten, bemüht sich darum, der Ruhestätte Liman von Sanders‘ den früheren Status zurückzugeben. Und zwar für sein humanitäres Engagement, das Leben von Armeniern und Griechen gerettet zu haben, die das jungtürkische Regime vertreiben, vernichten wollte. An der Rettung der Christen beteiligten sich auch Türken, Araber und sogar einige wenige Deutsche, wie die Autorin in Erfahrung brachte. Es ist der größte Genozid an einem christlichen Volk in der Weltgeschichte; die Zahl der Armenier, die durch Intervention der Bevölkerung überlebt haben, beläuft sich nach Schätzungen zwischen 90 000 und 200 000.

 

Berühmt wurde Liman von Sanders durch seine militärischen Verdienste im Ersten Weltkrieg. Er war 1915 deutscher Befehlshaber der V. Armee, einer Koalitionsarmee aus dem Osmanischen Reich, Deutschland und Österreich-Ungarn bei der erfolgreichen Verteidigung der Dardanellen. Der weitere Verlauf des Krieges brachte die von Frankreich und Großbritannien erwartete Niederlage des Osmanischen Reiches, das große Teile des Nahen Ostens beherrschte. Die Siegermächte zogen willkürliche Grenzen, Ergebnis für zahlreiche Konflikte in Nahost, die bis heute andauern.

 

Die Diplomaten F. Georges-Picot und M. Sykes legten bereits 1916 die Einflusssphären ihrer Länder fest. 2017 erklärt der britische Außenminister Balfour der Zionistischen Weltorganisation die Unterstützung seiner Regierung für die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina. Auf der Konferenz in San Remo April 1920 sichern sich London und Paris Mandatsgebiete im Nahen Osten, die Balfour-Deklaration wird Bestandteil eines internationalen Vertrags, jedoch ohne genaue Definition von Grenzen. Im August 1920 wird im Vertrag von Sèvres dem Osmanischen Reich ein Frieden mit großen Gebietsverlusten diktiert, den Sultan Mehmed VI. vor seinem Sturz 1922 allerdings nicht mehr ratifiziert. Am 1. September 1920 proklamierte Frankreich in seinen Mandatsgebieten sechs Kleinstaaten nach konfessionellen Gesichtspunkten: später verschmelzen fünf zu Syrien und aus Großlibanon wird die Republik Libanon.  (Wir erinnern an die folgenden Staatsgründungen: 1923 Türkei, 1932 Irak und Saudi-Arabien, 1946 Syrien und Transjordanien sowie 1947 Israel.  Am 20. November 1947 riefen die UN das britische Mandatsgebiet  Palästina zur Teilung in einen jüdischen und arabischen Staat auf.  Als das britische Mandat im Mai 1948 endet, erklären Transjordanien, Irak, Libanon, Ägypten und Syrien dem Staat Israel den Krieg).

 

Die einzelnen Kapitel des Werks führen durch die Kriegsjahre des Generals Liman von Sanders, wobei er u.a. 1918 als Kommandeur im Palästina-Feldzug mit vielen Widrigkeiten konfrontiert war. Durch Verleumdung geriet er im Februar 1919 in britische Kriegsgefangenschaft auf Malta. Zahlreiche Petitionen bezeugten, dass Liman von Sanders nicht an Massakern teilgenommen hatte, so wurde er im August desselben Jahres entlassen. Des Weiteren zeichnet die Autorin ein Bild der politischen Neuorientierung Deutschlands nach dem Kriege. 1918 hatte Kaiser Wilhelm II. abgedankt und die neue Regierung die Weimarer Republik ausgerufen. – Über das Schicksal der Armenier wurde diskutiert.  Weshalb hat die deutsche Politik nichts unternommen, den Bündnispartner von diesem unglaublichen Völkermord abzuhalten? Einige hohe deutsche Militärs sollen sogar daran beteiligt gewesen sein. Die Autorin beweist, dass sich Liman von Sanders anders verhielt: Er weigerte sich, den Befehlen des türkischen Innenministers Folge zu leisten und konnte 1916/17 in der Küstenregion von Smyrna Tausenden von Armeniern und Griechen sowie 1918 in Palästina zahlreichen Juden das Leben retten. -  Liman von Sanders kämpfte nach dem Krieg gegen Verleumdungen aus dem Ausland, die Autorin zitiert dazu: „Es ist eine Schmach, dass es durch Monate hindurch möglich war, dass deutsche Offiziere von der ganzen Welt mit ‚Massacres des Arméniens‘ belastet werden, während sie im Gegenteil pflichtmäßig für die Armenier eingetreten sind, wo dies möglich war.“

 

Das lesenswerte Buch erinnert nicht nur an den „Sieger von Gallipoli“, sondern auch an den von der Türkei bis heute geleugneten Völkermord. Durch aufwändige Forschungen wurde die Rolle Liman von Sanders‘ zwischen Staatsräson und Moral als Retter oder Täter eruiert. Davon zeugen umfangreiche Anmerkungen, ein Quellenverzeichnis und weiterführende Literatur.  Im Anhang kommen u.a. Tessa Hofmann mit „Otto Liman von Sanders - Versuch einer Annäherung“ und Helmut Donat mit „Armenien-Retter Otto Liman von Sanders und die ‚Ehre der deutschen Armee‘“ zu Wort. Fazit: Liman von Sanders sollte für sein humanitäres Engagement Gerechtigkeit widerfahren und seine Ehre wieder hergestellt werden!  – Der Biografie mit bewegenden Fotos möge eine weite Verbreitung beschieden sein. Dank an Autoren, Übersetzern, Verlag und den weiteren Persönlichkeiten, die sich für Entstehen und Edition derselben engagiert haben.

 

Zum Thema Genozid an den Armeniern hat der gleiche Verlag zwei weitere Bücher herausgegeben, die dem interessierten Leser empfohlen seien: Tessa Hofmann/Gerayer Koutcharian (Hrsg.) Vertreibung, Verfolgung, Vernichtung – Bilder und Texte zum Genozid an den Armeniern 1915/16, € 14,80 sowie von den gleichen Herausgebern: Todesvision – Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945), € 12,80.

 

Helga Walter-Joswig

 

   

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