Publik-Forum: Frau Hefets, Sie sind Jüdin und Israelin, und Sie engagieren sich für die BDS-Bewegung. Die drei Buchstaben stehen für »Boykott, Desinvestment, Sanktionen«. Sie boykottieren zum Beispiel israelische Produkte. Warum?
Iris Hefets: Ich engagiere mich für einen Boykott, weil Jüdischsein für mich unter anderem bedeutet, Widerstand zu leisten, wenn Ungerechtigkeit geschieht. Und in Israel geschieht großes Unrecht gegen die Palästinenser! Zunächst war ich aber gegen die Boykott-Bewegung. Ich habe immer geglaubt, dass Veränderung von innen kommen muss, von den dort lebenden Menschen selbst. Dann hat Israel Gaza überfallen, 2008 war das, und ich habe mit großer Verwunderung erleben müssen, dass 98 Prozent der Juden in Israel diesen Überfall unterstützen. 98 Prozent! Das sind totalitäre Zahlen. Das war für mich der Punkt, an dem ich erkannt habe: In diesem Fall müssen Veränderungen von außen herbeigeführt werden. Wissen Sie, ich bin Psychoanalytikerin, ich beschäftige mich mit der Fähigkeit von Menschen, sich zu ändern. In diesem Fall aber denke ich wie der Psychoanalytiker Professor Eran Rolnik, der Israel mit einem essgestörten Mädchen vergleicht. Sie schafft es nicht aus eigener Kraft, die Lage zu verändern, sie braucht Hilfe von außen.
Ist ein Boykott nicht viel mehr Strafe als Hilfe?
Hefets: Ist es eine Strafe, wenn ein essgestörtes Mädchen sich nicht zu Tode hungern darf? Den Boykott als Strafe anzusehen, geht an der Sache vorbei. Eine Strafe bewirkt keine Veränderung. Ein Boykott kann wachrütteln. Wirklich schaden kann er Israel nicht, aber er kann das Gefühl vermitteln, dass Israel sich nicht alles erlauben darf. In diesem Land werden die Palästinenser unterdrückt und diskriminiert, und westliche Politiker belohnen das noch, indem sie Israel Waffen liefern. Das muss aufhören! Ich sehe BDS als Bewegung an, die Grenzen aufzeigt.
Innerhalb der BDS-Bewegung gibt es unterschiedliche Formen des Boykotts. Einige lehnen es ab, Waren aus den von Israel besetzten Gebieten zu kaufen, also Siedlerprodukte, andere boykottieren Israel insgesamt. Auf welcher Seite stehen Sie?
Hefets: Hier muss man unterscheiden zwischen meiner persönlichen Ansicht und den Ansichten des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, dessen Vorsitzende ich bin. Unser Verein boykottiert nur Waren aus den besetzten Gebieten und ruft zu einem akademischen Boykott auf, wenn zum Beispiel eine Hochschule in Siedlergebieten gebaut wird. Ich persönlich würde sagen: Auch wenn die Gurke in Israel angebaut wurde – das Wasser wurde zuvor den Palästinensern geklaut. Es ist letztlich eine persönliche Entscheidung, was für einen selbst koscher ist.
Werden mit einem Boykott nicht alle Israelis unter Kollektivstrafe gestellt?
Hefets: Nochmal: Ein Boykott ist meines Erachtens keine Strafe. Aber bei dem Wort »kollektiv« gehe ich mit, ja. Natürlich sind Juden, Christen und Muslime, Arme und Reiche, alle gleich davon betroffen. Und das ist auch gut so! Das ist wichtig, weil es um das zu boykottierende Handeln geht – und nicht um die handelnde Person als Ziel.
Bekennt sich die BDS-Kampagne klar zum Existenzrecht Israels?
Hefets: Das ist eine sehr christliche, deutsche Frage. Nein, ein solches Bekenntnis ist nirgendwo schriftlich festgehalten. Warum auch? Israel ist keine Kirche und kein Glaube, zu dem man sich bekennt, es ist ein Staat, also ein politisches Konstrukt. Es ist nicht Aufgabe einer Kampagne, die auf dem Völkerrecht basiert, sich zu etwas zu bekennen. Außer vielleicht zu den Menschenrechten, und das tut BDS. Der Aufschrei um das Existenzrecht Israels ist zu einem Ritual geworden, besonders in Deutschland. Ich finde diesen Begriff und das dahinterstehende Konzept völlig unangemessen.
Warum?
Hefets: Den Begriff Existenzrecht für einen Staat zu verwenden, erscheint mir abstrus, zumal sich Staaten im Laufe der Geschichte immer wieder verändert haben. Es spricht ja auch niemand vom Existenzrecht Deutschlands oder Frankreichs oder Japans. Warum also diese Sonderbehandlung für den Staat Israel? Ich bin für eine Änderung in dem Sinne, dass alle Staatsbürger werden und die Zweiklassengesellschaft, die in Israel herrscht, endet. Denn eine Demokratie bevorzugt nicht die Angehörigen einer Religion. Wenn es zu gleichen Rechten für alle käme, würde das das Ende bedeuten für den Staat Israel in seiner heutigen Form. Stattdessen gäbe es eine andere, demokratische Staatsform.
Sie haben den Großteil Ihres Lebens in Israel verbracht. Haben Sie die Zweiklassen-Gesellschaft, von der Sie sprechen, selbst erlebt?
Hefets: Na und wie! Ich bin die Tochter einer marokkanischen Mutter und eines Vaters, der aus einer spanisch-russischen Familie stammt. Er hat mir glücklicherweise einen aschkenasischen Namen gegeben, wodurch ich eher zur privilegierten Seite gehörte. Dafür musste ich aber die Familie mütterlicherseits verleugnen und verachten, wie es die israelische Leitkultur von einem verlangt. Israel will sich als Teil von Europa sehen, duldet zwar nicht-europäische Bürger, stellt sie aber ständig unter Verdacht.
Die Boykott-Bewegung hat in den letzten Jahren international enorm Aufwind erfahren...
Hefets: Ja, das liegt auch daran, dass Israel die BDS-Bewegung zum Erzfeind erklärt hat. Erst nahm die Hamas diese Rolle ein, dann der frühere iranische Präsident Ahmadinedschad, und seit 2015 ist es BDS. Präsident Netanjahu hat die Boykottbewegung sogar als »größte Bedrohung des Landes« bezeichnet.
Welche Rolle spielt die Boykottbewegung in Deutschland?
Hefets: Längst nicht eine so große Rolle wie in den USA oder in Großbritannien. In Deutschland hat man Angst vor der »Antisemitimus-Keule«. Hier gibt es mit Blick auf Israel eine große Kluft zwischen dem, was die Mehrheit der Gesellschaft denkt und dem, was die Politik tut und sagt. Unser Verein bekommt viele kleine Spenden von vielen verschiedenen Menschen. Unsere Ziele und Forderungen – ein Ende der Besatzungspolitik Israels, ein menschenwürdiger Umgang mit den Palästinensern – haben eine breite Basis in der deutschen Gesellschaft. Viele Deutsche unterstützen das. Aber die Politiker trauen sich nicht. Sie argumentieren mit der Staatsräson und dem Existenzrecht Israels und so weiter. Es sind Sprachfloskeln, die der Tabuisierung dienen und die die Möglichkeit, nachzudenken und zu diskutieren, schon im Keim ersticken. Es darf kaum darüber nachgedacht werden, wie sich Israel verhält und welch bedeutende Rolle die deutsche Politik dabei spielt.
Diskutieren Sie eigentlich mit vehementen BDS-Gegnern wie dem Zentralrat der Juden? Oder sind die Fronten zu verhärtet?
Hefets: Das ist nicht mehr möglich. Wir werden gar nicht als Teil der jüdischen Gemeinschaft angesehen, sondern ausgeschlossen, als Nestbeschmutzer beschimpft. Wir suchen den Kontakt aber auch nicht. Die offizielle jüdische Gemeinde identifiziert sich komplett mit Israel – egal was dieser Staat tut. Es würden sich sehr viel mehr Menschen bei uns engagieren, wenn sie nicht so viel Angst davor hätten, dann aus ihrer jüdischen Gemeinde ausgegrenzt zu werden. Wir bekommen manchmal Spenden unter der Bedingung, den Namen des jüdischen Spenders nicht zu veröffentlichen.
Wie ergeht es BDS-Unterstützern innerhalb Israels?
Hefets: Israelis werden generell schikaniert, wenn sie sich mit den Palästinensern solidarisieren, ganz unabhängig von BDS. Der palästinensische Menschenrechtsaktivist Omar Barghouti, der BDS gegründet hat, wird festgehalten, er darf das Land nicht verlassen, von Einschüchterungen und Drohungen ganz zu schweigen. Ausländischen BDS-Aktivisten wird seit März dieses Jahres die Einreise nach Israel verweigert. Und israelischen Boykottbefürwortern drohen nun einjährige Gefängnisstrafen, falls nachgewiesen werden kann, dass beispielsweise Veranstaltungen aufgrund eines Boykottaufrufs abgesagt wurden. Im Laufe der Zeit hat Israel sichtbar totalitäre Züge angenommen. Dementsprechend geht es jedem Andersdenkenden in Israel nicht besondern gut. Die größten Angriffe erlebten in den letzten Jahren Organisation wie »Breaking the silence«, die Zeugnisse von Soldaten über das, was sie erlebt und getan haben, dokumentieren und veröffentlichen.
Iris Hefets, geboren in Beer-Sheva in Israel, ist eine jüdische Psychoanalytikerin und Vorsitzende des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«. Sie ist in Israel aufgewachsen, hat dort in der Armee gedient und sich vor 15 Jahren aus politischen Gründen dazu entschlossen, Israel zu verlassen. Seitdem lebt sie in Berlin. Dieses Interview beleuchtet eine Seite der Debatte um BDS. In der aktuellen Ausgabe von Publik-Forum lesen Sie einen Beitrag über die Hintergründe der Bewegung, wie ihre Gegner sie bewerten und warum aus einem wirtschaftlichen Boykott ein Kampf der Ideen geworden ist: Streit um Paprika aus Palästina.
Quelle: https://www.publik-forum.de/Politik-Gesellschaft/ein-boykott-kann-wachruetteln#gal_Vor
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