Der 30. November 1939 war ein Donnerstag, vermutlich ein ebenso trüber grauer Tag in Deutschland wie die meisten Tage in dieser Adventszeit. Für meinen Großvater Julius war es einer der trübsten Tage seines Lebens — so jedenfalls stelle ich mir den Tag seiner Deportation von seiner Heimatstadt Chemnitz in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin vor. Großvater Julius war damals 61 Jahre alt, fast auf den Tag genau so alt, wie ich jetzt bin. Wie würde ich mich heute verhalten, frage ich mich, wenn ich gezwungen wäre, in einen Viehwagon einzusteigen, ohne Angabe von vernünftigen Gründen, ohne höfliche Aufforderung? Ein Viehwagon ohne Sitzplätze, ohne Fahrkarte, ohne WC und mit lauter anderen Menschen, die vermutlich genauso verängstigt wären wie ich, manche gebrechlich, manche mit kleinen Kindern, manche erzürnt, manche verzweifelt, weil sie bereits eine Ahnung davon hätten, was sie erwarten würde. Und doch ist wohl nichts schwieriger als das zu erahnen, was man unter keinen Umständen erahnen will, was man sich nicht vorstellen möchte und nicht vorzustellen vermag, weil das Grausamste und Schrecklichste zumindest in gesunden Köpfen undenkbar ist und weil der Mensch doch immer mehr dazu neigt, sich ein gutes Ende vorzustellen als ein schlechtes.
Mein Großvater erlitt ein schreckliches Ende. Er erkrankte schwer — das ist gewiß — und wurde höchstwahrscheinlich am großen Richtplatz des KZs Sachsenhausen erhängt. So wurde es uns von meinem Vater Rolf erzählt, den sein Vater Julius im Sommer 1937 noch nach Palästina brachte und ihm damit das Leben rettete. In den vielen Jahren, in denen ich nun schon in Deutschland lebe, ist es mir erst an einem 9. November vor etwa zehn Jahren das erste Mal gelungen, das Konzentrationslager Sachsenhausen zu besuchen, und auch nur, weil meine Freunde und Mitmusiker mich begleiteten und mir beistanden, als ich im Angesicht des Galgenortes nicht mehr selbst stehen konnte. Auf dem riesigen, menschenleeren, novembergrauen Apellplatz erschienen mir die tausenden Ausgemergelten in ihren graugestreiften Anzügen, wie sie gezwungen waren, dem langsamen, qualvollen Tod ihres Mithäftlings zuzusehen.
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