Mit einem Seufzer der Erleichterung registriert die EU, dass die säkularen Kräfte in Tunesien - dem Europa auch geographisch nächstliegenden arabischen Staat – die Parlamentswahlen für sich entschieden haben. Die Wahlen verliefen transparent, fair und friedlich. Aber sind sie ein Vorbild für alle anderen arabischen Völker, die sich von ihren diktatorischen Regimes befreien wollen und nach neuen stabilen Regierungsformen suchen? Begeistert hofft der Beiruter Daily Star auf Nachahmer in der Region, „dass der Wunsch der Menschen nach Stabilität, Frieden und gleichen Rechten für alle sich durchsetzt, und dass Diktatoren irgendwann dazu gezwungen sind, ihrem Volk Freiheit und Gerechtigkeit zu geben.“ Tunesien so testiert er weiter, liefere das Beispiel, „ dass die Bürger eines Landes selbst über ihre Zukunft entscheiden, nicht aber Kräfte von außerhalb. Diese Wahl unterstreicht Tunesiens Ruf als stabilste und vielversprechendste arabische Nation in einer Zeit der politischen Unruhen im Nahen Osten."
Von der heimischen Zensur unbemerkt frohlocken zu unserer Überraschung die saudischen Arab News aus Dschidda, der vergleichsweise liberalsten Stadt des konservativen Königreichs: „Tunesien zeigt beispielhaft, wie ein Staat politische Reife erreichen kann. Zwar ist es ein kleines Land, blickt man nur auf Fläche und Bevölkerungszahl. Aber Tunesiens Errungenschaften und sein Ehrgeiz sind riesengroß. So sticht es hervor in einer Region, die von verfeindeten Parteien und Blutvergießen geprägt ist. Tunesien ist ein großes Vorbild für andere Länder. Es zeigt, dass es möglich ist, in scheinbar unüberwindbaren Konflikten einen Konsens zu erreichen, solange nur der Wille dafür da ist.“ Doch ernsthaft muss bezweifelt werden, dass Riads herrschende vom Dogmatismus geprägte Kaste Tunesien als Vorbild für die eigene Entwicklung sieht. Das Presseecho indes stimmt verheißungsvoll.
Der politische Frühling, der nur dieses Land umkrempelte, wird, so hoffen wir Europäer, Tunesien zu demokratischer Reife führen. Doch es genügt nicht, wenn die EU applaudiert; wir müssen diesem überwiegend agrarisch geprägten Staat verlässliche großzügige Startchancen gewähren. Spezielle Sprach- Stipendien- und Studienprogramme unserer Hochschulen müssen an die Jugend Tunesiens Willkommenssignale senden. Die Ausländerämter der Hochschulstädte, die Universitäten, sind in diese Programme einzubinden. Wir sollten ihnen nach deutschem Modell beim Aufbau von Studentenwerken helfen, eine deutsche basisdemokratisch gewachsene Domäne, für die wir weltweit beneidet werden. Gleiches gilt für die Öffnung der deutschen Wirtschaft und der Handwerkskammern, um den deutschen geheimen Exportschlager, das duale System, für unsere neuen Gäste zu synchronisieren.
Harald Moritz Bock
< Lecture "Crisis in the Middle East : from the Arab upheavals to the "Islamic state" Prof. Gilles Kepel