Im Koran findet jeder, was er will: Wer nach Suren sucht, die Gewalt rechtfertigen, wird rasch fündig. Die Behauptung aber, der Koran sei ein Werk, das zur Gewalt aufrufe, ist falsch.
Wer im Koran nach Suren sucht, die Gewalt rechtfertigen, wird rasch fündig. So heißt es in Koran 9:5: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller \[Götzendiener\], wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt.“ Wenig später heißt es in Sure 9:29: „Kämpft gegen die, die nicht an Gott glauben und auch nicht an den Jüngsten Tag (...), bis sie erniedrigt den Tribut aus der Hand entrichten.“ Viele andere beschäftigen sich mit Gewalt. So schildert Koran 33:25 die Vernichtung des jüdischen Stamms der Quraiza im Jahr 627. Mit diesen und ähnlichen Stellen rechtfertigen islamistische Extremisten ihren Terror, mit diesen Textstellen begründen auch viele Nichtmuslime ihre Angst vor dem Islam.
Islamische Theologen diskutieren jedoch, seit der Ausrufung des „Islamischen Staats“ durch Abu Bakr al Bagdadi, kontrovers darüber, wie solche und auch andere Koranstellen zu deuten sind. Während die Extremisten im Wortsinn Fundamentalisten sind und einzelne Sätze des aus dem 7. Jahrhundert stammenden Korans auch heute wörtlich anwenden wollen, verweisen die meisten Religionsgelehrten auf den konkreten „Offenbarungsanlass“ (sabab al-nuzul); dabei gilt es, die historischen Umstände von Ort und Zeit, in die hinein die Offenbarung erfolgt ist, zu berücksichtigen, und ein allgemeines Prinzip zu formulieren, das in anderen Zeiten und an anderen Orten als in Mekka und Medina angewandt werden kann.
Zeitgenössische konservative Theologen wie Yusuf al Qaradawi argumentieren beispielsweise in der Auslegung von Koran 9:29, dass die Nichtmuslime in der Frühzeit des Islam den Tribut, also die „Kopfsteuer“ (dschizya), zu entrichten gehabt hätten, weil sie vom Militärdienst, zu dem jeder Muslim verpflichtet gewesen sei, befreit waren. Heute gebe es keinen Militärdienst ausschließlich für Muslime, daher könne auch nicht die „Kopfsteuer“ erhoben und die Nichtbezahlung zu einem Delikt gemacht werden.
Diese Theologen fordern, auch den jeweiligen Kontext im Koran zu berücksichtigen. So beziehe sich etwa Koran 9:5 nicht auf „Götzendiener“ im allgemeinen, sondern – wie Koran 9:7 erläutert – auf jene „Götzendiener“, die mittels eines Vertrags einen Bund mit den Muslimen geschlossen hatten, diesen aber einseitig brachen. Aus dem Kontext genommen, klingen einzelne Textstellen wie Tötungslizenzen. Dass sie das nicht sind, zeigt auch die historische Erfahrung: So sind in der Geschichte des Islam die Yeziden, die für die Muslime „Götzendiener“ sind, nie systematisch verfolgt worden; das geschieht erst heute.
Jene, die der fundamentalistischen Auslegung der Koransuren zur Gewalt entgegentreten, berufen sich auf ganz andere Suren, etwa Koran 5:32: „Wenn jemand einen Menschen tötet, der keinen anderen getötet, auch sonst kein Unheil auf Erden gestiftet hat, so ist‘s, als töte er die Menschen allesamt.“ Die Behauptung, der Koran sei in seiner Gesamtheit ein Werk, das zu Gewalt aufruft und dem Gewalt inhärent ist, trifft nicht zu. Jeder liest heraus, was er will.
Aufschlussreich ist die innerislamische Diskussion, die mit der Ausrufung des „Islamischen Staats“ am 29. Juni 2014 eingesetzt hat. Selbst radikale Theologen wie Abu Muhammad al Maqdisi kritisieren Bagdadi und sein Kalifat. Maqdisi hatte als Mentor von Abu Musab al Zarqawi, der 1999 die Vorläuferorganisation des „Islamischen Staats“ gegründet hatte, einen erheblichen Einfluss auf diese Bewegung. Bereits 2004 distanzierte er sich von Zarqawi, im Sommer 2014 auch von Bagdadi. Maqdisi lehnte die rohe Gewalt beider ab und bezeichnete den „Islamischen Staat“ als eine „irregeleitete Organisation“; er hält aber grundsätzlich an der Idee des Dschihad fest.
Theologisch wichtiger ist der Brief von 126 konservativen Religionsgelehrten aus der ganzen islamischen Welt vom 19. September 2014. Der Brief setzt sich mit 25 Positionen Bagdadis auseinander. Absicht des Briefs ist, Bagdadi als theologischen Dilettanten zu entlarven, der gegen die anerkannten theologischen Prinzipien verstoße, der weder Offenbarungsanlässe berücksichtige noch den Kontext. Sie erteilen ihm eine Lehrstunde in der Koranauslegung. In ihrer Exegese der Stellen zum Dschihad kommen sie zu dem Schluss, die Waffe Dschihad sei die Reinigung der Seele. Sie verurteilen ausdrücklich das Töten von „Sendboten“, zu denen sie neben Diplomaten und Entwicklungshelfern auch Journalisten zählen. So kritisieren sie die Ermordung von zwei Journalisten durch den „Islamischen Staat“ mit den Worten: „Was ihr getan habt, ist zweifellos verboten.“
Den vollständigen Beitrag von Rainer Hermann erschien am 08.01.2015 in der FAZ-net finden Sie hier.
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