Libyen -- Mittagstisch in Downtown Tripolis: Vor dem Restaurant Sultan Ahmet – das dortige Iskender-Kebab lockt nicht nur türkische Geschäftsleute – bricht jemand eine Schlägerei vom Zaun. Schreie, Backpfeifen, und Sekunden später hat einer der Beteiligten eine halbautomatische Pistole in der Hand. Der Gegner greift tief in seinen Schlüpfer und zieht – glücklicherweise – nur eine Beretta daraus hervor. Nun geht ein langbärtiger Salafist beherzt dazwischen. Verbal. Wenn diese Leute sich nicht selbst prügeln, können sie ganz engagierte Schlichter sein! Die Streithähne trollen sich schließlich, diesmal hat niemand eine Kugel abbekommen. Was nicht zuletzt schon deshalb ein Segen ist, weil die Ambulanzen vor dem Stau in Tripolis kapitulieren.
Mehr Schusswaffen als Einwohner
Natürlich ist ein solches Schauspiel nicht nur in Libyen zu betrachten, aber es erinnert daran, wie verhältnismäßig glimpflich es dort bisher ausgegangen ist. Nach vorsichtigen Schätzungen verfügt Libyen über weit mehr Schusswaffen als über Einwohner, und davon gibt es immerhin rund sechs Millionen. Von einer Staatsgewalt kann nicht einmal in der Hauptstadt eine Rede sein. Es sei denn, man betrachtet die Reviere der verschiedenen Milizen, die sich, aus den Provinzen kommend, seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes im Herbst 2011 dort eingerichtet haben, als eine besondere, eine libysche Form von Sicherheitsföderalismus.
Von einer Staatsgewalt kann nicht einmal in der Hauptstadt eine Rede sein. Es sei denn, man betrachtet die Reviere der verschiedenen Milizen als eine libysche Form von Sicherheitsföderalismus.
Von seiner Waffendichte und seinen Fliehkräften und Konflikten her hätte dieses Land das Potenzial, ein Somalia am Mittelmeer zu werden. Aber bei allem Alltagswahnsinn und vom Straßenverkehr einmal grundsätzlich abgesehen, ist es dazu bislang nicht gekommen. Selbst die großspurigsten Milizionäre lassen es selten zum Äußersten kommen, weil sie am Ende doch die Konsequenzen fürchten: Ärger mit anderen Clans, Blutrache. Oder weil sie eine Eskalation schlicht für nicht angemessen halten.
Fast drei Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Gaddafi bewegt sich Libyen in einem Zustand kontrollierter Anarchie – hat allerdings eine Führung, die es ernst zu meinen scheint mit dem Versprechen, einen Staat zu gründen, der auch lebensfähig ist.
Die Gewalt eskaliert, die Einschläge kommen näher...
Nun kommen die Einschläge näher und nicht alle Auseinandersetzungen enden harmonisch. Erst vor einigen Tagen wurde im zentrallybischen Sirte, der Heimatstadt der Gaddafis, der stellvertretende Industrieminister erschossen. Und auch diese Woche hat schlecht angefangen: Zwei italienische Arbeiter verschwanden spurlos in Bengazi, in Tripolis wurde der Leiter der koreanischen Handelsmission entführt. Westlich der Hauptstadt starben elf Menschen in einem Feuergefecht zwischen Sicherheitskräften und marodierenden Banden; zuvor wurde ein Offizier der Polizei getötet. In den frühen Morgenstunden am Montag fielen in Bengazi zwei Mitglieder einer „Spezialeinheit“ einem Attentat zum Opfer. Ein Rechtsanwalt und Anwärter für das Verfassungskomitee entging am Sonntagabend in Tripolis einem Sprengstoffattentat.
Dass sich der Staat, auch wenn er schwach ist, nicht alles bieten lässt, zeigt Premier Ali Zeidan im Süden: Er rief den Notstand aus, weil angebliche Gefolgsleute Gaddafis in Sabha, einer Millionenstadt rund 750 Kilometer von Tripolis entfernt, einen Militärflughafen überrannt hatten. Truppen und verbündete Milizen rückten an und sogar die libysche Luftwaffe soll Angriffe geflogen haben.
Mit den „Anhängern Gaddafis“– in Libyen ein Synonym für die trotzigen Verlierer der Revolution – wurde die Regierung vorerst fertig. Schwerer dürfte es werden, die Clan-Konflikte dort zu lösen. Womöglich bahnte sich in Sabha aber auch ein Unheil mit Symbolkraft an: Es heißt, die Aufständischen hätten das Rollfeld gekapert, um dort das Comeback des Gaddafi-Sohnes Saadi zu inszenieren. Der sollte angeblich aus dem Exil im Niger wiederkehren.
Premier Zeidan tobte zurecht, weil einige Parlamentarier in dieser Lage nichts besseres zu tun hatten, als wieder einmal eine ihrer zahlreichen, bisher stets gescheiterten Misstrauensabstimmung zu inszenieren. Die inneren Konflikte sind zermürbend und die Gefechte mit den „Anhängern Gaddafis“ hart. Gleichwohl sind sie aber wohl beizulegen. Denn dabei geht es mitunter um rational begründbare Interessen: Beteiligung und Integration. Das gilt auch für den Streik der Ölarbeiter und das Aufbegehren der Ostprovinz Bengazi gegen die Zentralregierung und ihre Verteilungspolitik.
Zielpunkt für Dschihadisten aus Syrien und Ägypten
Schwerer wird es Libyen allerdings mit den gewalttätigen Dschihadisten haben, die vornehmlich im Osten hausen, für kein vernünftiges Argument empfänglich sind und allmählich auch im Westen Libyens aufkreuzen. Das Problem des Dschihadismus ist in Ost-Libyen nicht neu, gewinnt allerdings durch äußere Faktoren wie den Krieg in Syrien und die Verfolgung der Islamisten im Nachbarland Ägypten an Brisanz. Libysche Al-Qaida-Kämpfer kehren aus Syrien zurück und militante, zunehmend radikalisierte ägyptische Dschihadisten richten sich dort ein. Sie haben nicht nur Waffen im Überfluss, sondern stellen inzwischen sogar anderen Salafisten nach: frommen Männern, die zwar kein Gebet versäumen und die Zähne nach Prophetenvorbild nur mit einem Holzstück putzen, es aber ablehnen, sich wie Höhlenmenschen zu benehmen und ihre Landsleute zu töten.
Die durch das Chaos und die Erfahrung der Gaddafi-Diktatur vertiefte Abneigung der Libyer, sich staatlicher Obrigkeit zu unterwerfen, mag diejenigen, die einen Staat aufbauen wollen, zur Verzweiflung treiben. Sie ist allerdings auch nicht unsympathisch und führt im besten Fall zu einer sehr eigenwilligen Form zivilgesellschaftlichen Engagements. Gepaart mit Arbeitslosigkeit, Langeweile und der Saat des Dschihadismus kann sie allerdings auch böse Folgen haben.
Da wir in den letzten Tagen über mögliche „europäische Militäreinsätze in Afrika“ diskutieren, sollten wir uns darauf vorbereiten, dass Libyen vielleicht noch einmal die Hilfe der Europäer brauchen könnte.
Die libysche Staatsmacht wird diesen Umtrieben nicht anders begegnen können als mit Gewalt – so rechtsstaatlich, wie es eben geht und die Umstände gestatten. Ihr fehlt aber vor allem die Zeit, um ordentliches Personal, Know-How und die Strukturen aufzubauen, die dieser Kampf erfordern wird. Er ist in Libyen nicht aussichtslos, denn die libysche Neigung zur Anarchie kann auch den Dschihadisten mit ihren Allmachtsfantasien noch um die Ohren fliegen. Aber: Da wir in den letzten Tagen schon über mögliche „europäische Militäreinsätze in Afrika“ diskutieren, sollten wir uns darauf vorbereiten, dass Libyen vielleicht noch einmal die Hilfe der Europäer brauchen könnte. Und dass diese Hilfe – abermals – auch militärischer Natur sein kann.
Autor: Daniel Gerlach ist Mitherausgeber des Magazins „Zenith – Zeitschrift für den Orient“ sowie Mitgründer und Chefredakteur des Deutschen Levante Verlags. Gerlach studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.
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