Erschienen am 10.03.2014 als Meinung in der Kolumne Außenansicht der Süddeutschen Zeitung
Von Clemens Messerschmid
In den Debatten über den israelischen und palästinensischen Wasserkonsum wird meist so getan, als handele es sich um zwei gleichberechtigte Staaten, so auch in der Diskussion um die Äußerungen des Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz. Dabei wird der Zugang zu Wasser ganz und gar von der israelischen Besatzung bestimmt. Israel beansprucht nicht das meiste Wasser für sich - der israelische Staat beansprucht die Kontrolle über das gesamte Wasser in Palästina.
Unmittelbar nach Beginn der Besatzung der palästinensischen Gebiete 1967 wurden drei Militärdekrete erlassen, die bis heute diese Kontrolle festschreiben. Das erste Dekret (#92) stellt alles verfügbare Wasser unter die Hoheit eines "befugten Militärbefehlshabers". Das zweite
(#158) führte das sogenannte Permit-System ein, wonach jegliches Wasserprojekt nur mit Erlaubnis der israelischen Militärverwaltung möglich ist beziehungsweise ohne Permit als illegal betrachtet wird. Das dritte Dekret schließlich (#291) gab der Militärverwaltung das Recht, selbst bestehende Abkommen, Lizenzen und Erlaubnisse für nichtig zu erklären. Damit gehört grundsätzlich alles Wasser Israel. Ausnahmen regelt die Militärverwaltung.
In der Realität bedeutet dies, dass im größten und produktivsten Grundwasserbecken, dem westlichen Aquifer, der nach Westen zur israelischen Küste reicht, seit 1967 kein einziger neuer Brunnen für Palästinenser genehmigt wurde. Im östlichen, von Israel abgewandten Aquifer übersteigt die Menge an gefördertem Wasser allein für die knapp zehntausend Siedler im Jordangraben mit 40 Millionen Kubikmetern im Jahr bei Weitem die gesamte Förderrate aller palästinensischen Brunnen, die bei 25,7 Millionen Kubikmetern liegt. Diese Siedler verbrauchen nicht jene 70 Liter, die Schulz genannt hatte, sondern sagenhafte 13 000 Liter pro Kopf und Tag.
Debatten über den palästinensisch-israelischen Wasserkonflikt gehen meist von einer Wasserknappheit in der Region aus. Das ist ein Mythos.
In Wirklichkeit agieren die Berge der Westbank als Hauptregenfänger für die heftigen Winterregen vom Mittelmeer. So fällt in Jerusalem mehr Regen als in Berlin, in Ramallah mehr als in London-Heathrow. Die extreme Wasserkrise in Nahost ist keine üble Laune der Natur. Sie ist politisch erzeugt. Auch vom Jordanfluss erreicht kein Tropfen Wasser die palästinensischen Gemeinden. Jede Leitung und Pumpstation, jedes Wasserreservoir bedarf einer Erlaubnis der Militärverwaltung. Das gilt erst recht für Großprojekte wie Kläranlagen oder Brunnenbohrungen.
Selbst der Regen, der in der Westbank fällt, wird enteignet: Zisternen, die ohne Permit den Regen auf dem eigenen Hausdach sammeln, gelten Israel als illegal. Sie werden mit Abrissverfügungen belegt und vom israelischen Militär zerstört.
Die Menge des palästinensischen Wasserverbrauchs hängt also vollständig von der Gnade der jeweiligen Regierung Israels und der Besatzungsbehörden ab. Wasserprojekte, vor allem neue Brunnen, verhindert die Militärverwaltung fast ausnahmslos. Die dadurch bewusst erzeugte extreme Wasserknappheit zwingt die Palästinenser zu einer prekären Praxis. Immer größere Mengen des ihnen vorenthaltenen Wassers, das oft genug aus der Westbank stammt, müssen sie beim israelischen Wassermonopolisten Mekorot für teures Geld zurückkaufen. Diese verkauften Mengen haben seit den Osloer Abkommen von 1992 stark zugenommen - nicht, weil das Angebot so gut ist, sondern weil es für Palästinenser keine Bohrgenehmigungen gibt. Mekorot ist heute der größte Trinkwasserversorger der Westbank. Uri Shani, einst Chef der israelischen Wasserbehörde (IWA), hat zu Recht gesagt: "Ich bin de facto der palästinensische Wasserregulator."
Dies ist der selten beleuchtete Hintergrund für die Aufregung, die die Rede von Martin Schulz in der Knesset auslöste. Vor allem die Siedlerparteien fühlten sich auf den Schlips getreten. Ihr Stein des Anstoßes waren dabei weniger die falschen Absolutzahlen von Schulz als vielmehr die tieferliegende Aussage über das Ausmaß der Ungleichverteilung, bei der Schulz der Wirklichkeit sehr nahe kam. Dabei streiten nicht nur die Siedler, sondern auch offizielle israelische Stellen dieses Missverhältnis rundweg ab. Sogar Uri Schor, der Sprecher der israelischen Wasserbehörde, operiert mit Zahlen, die den amtlichen israelischen Angaben widersprechen. Ein Israeli, so Schor, habe 2006 täglich 466 Liter, ein Palästinenser 301 Liter Wasser verbraucht; neuere Zahlen lägen nicht vor.
Dabei genügt ein Blick auf Schors eigene regierungsamtliche Website, um die genauen Zahlen präzise aufgeschlüsselt bis zum Jahre 2011 zu ermitteln. Aber Schor stützt sich gar nicht auf die amtlichen Jahrbücher und Statistiken, sondern auf eine ideologisch gefärbte Studie des Hydrogeologen Haim Gvirtzman, der selbst in einer Siedlung lebt. Die amtlichen Zahlen der israelischen Wasserbehörde zeichnen ein anderes
Bild: Nimmt man den Gesamtverbrauch im Jahr 2011 für die drei Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Trinkwasser, kommt man auf 646 Liter pro Person auf israelischer und 133 auf palästinensischer Seite. Bei den Werten für Trink- und gewerbliches Brauchwasser allein kommt man auf 278
(Israel) zu 77 (palästinensische Gebiete) Litern. Die Weltgesundheitsorganisation nennt 100 Liter täglichen Trinkwassers als Untergrenze für ein menschenwürdiges Leben.
Ein Israeli verbraucht somit das 3,6-Fache eines Palästinensers an
Trink- und gewerblichem Wasser und sogar das 4,8-Fache an Gesamtnutzung
- das sind ziemlich genau die Proportionen, die Schulz nannte. Noch krasser ist das Missverhältnis in der Landwirtschaft, in die der Löwenanteil des israelischen Verbrauches fließt, obwohl sie nur noch zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht: Jeder Israeli hatte 2011 täglich 368 Liter für Bewässerung zur Verfügung, das Sechseinhalbfache eines Palästinensers (57 Liter).
Die Wasserversorgung in den palästinensischen Gebieten zu verbessern wäre recht einfach, wenn die Palästinenser Brunnen bohren und ihr eigenes Grundwasser nutzen dürften. Aber das Permit-System, das dies verhindert, besteht weiter. Die Bundesregierung toleriert das stillschweigend, sie hat vor 14 Jahren ihre letzten Bohrprojekte abgebrochen, weil es keine israelischen Genehmigungen gab. So sank die jährliche palästinensische Förderrate in den 20 Jahren Oslo-Prozess um 20 Millionen Kubikmeter. Der politische Druck, der nötig wäre, dies zu ändern, blieb aus. Der vorige Entwicklungsminister Dirk Niebel warnte sogar vor "zusätzlichen Rohwasserentnahmen" - natürlich nur vor palästinensischen. Herr Schulz hätte noch einiges zu berichten gehabt.
Erschienen in der Süddeutschen Zeitung
Clemens Messerschmid, 49, ist Hydrogeologe und arbeitet seit 17 Jahren in verschiedenen Wasserprojekten der Westbank und Gazas, unter anderem für die deutsche GIZ und die palästinensische Wasserbehörde.
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