Libyen, Tunesien, Ägypten, Bahrein, Jemen, Syrien – die arabische Demokratiebewegung ist zu einer enormen Herausforderung für die westliche Außenpolitik geworden. Wie kann, soll und darf geholfen werden? Sollen wir militärisch intervenieren, Waffen liefern, Flugverbotszonen einrichten, Sanktionen beschließen, das Regime stürzen?
Der Krieg in Syrien hat das Dilemma deutlich gemacht. Die Eingriffe von außen beenden das Blutvergießen nicht, sie fördern auch das Treiben von Terroristen und sind in vielen Fällen völkerrechtswidrig. Und trotzdem: Haben wir nicht eine menschenrechtliche »Schutzverantwortung« für die Bedrohten? Der Begriff, so humanitär er klingt, ist völkerrechtlich leider überaus ambivalent.
Mit der Schutzverantwortung hatte der UN-Sicherheitsrat in zwei Resolutionen vom Februar und März 2011 den Weg für die Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen geöffnet. Die Bundesregierung, damals Mitglied im Sicherheitsrat, enthielt sich der Stimme, ebenso wie Russland, China, Indien und Brasilien, aber anders als die Nato-Verbündeten USA, Großbritannien und Frankreich. Sie musste deshalb in sämtlichen Medien einen lange anhaltenden Sturm der Empörung über sich ergehen lassen.
Der folgende Militäreinsatz hat dann das Mandat eindeutig überdehnt – bis hin zum Ziel, Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Der so vom Westen gestützte Bürgerkrieg hat vermutlich bis zu 50.000 Menschenleben gekostet.
Souveränität versus Menschenrechte?
Für den Libyeneinsatz hat der Sicherheitsrat erstmals eine Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen mit der sogenannten »responsibility to protect« begründet. Dies ist ein schon länger diskutiertes, aber längst nicht ausgereiftes Konstrukt, mit dem man ursprünglich ein Instrument gesucht hatte, um bei Massenmorden wie in Kambodscha zwischen 1975 und 1977 oder bei den Hutu-Massakern an den Tutsi im Jahre 1994 in Ruanda von außen eingreifen zu können.
Verhindert worden waren solche humanitären Militäraktionen stets durch das völkerrechtliche Prinzip der Souveränität der Staaten und das daraus abgeleitete Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten in Artikel 2 (7) der Charta.
Die Souveränität gilt zwar längst nicht mehr uneingeschränkt. Sie wird im Sprachgebrauch der Völkerrechtler »überlagert« von vielfältigen Verpflichtungen zur Wahrung der Menschenrechte. Was dies in konkreten Einzelfällen bedeuten sollte, blieb jedoch strittig. In diesem Spannungsfeld behielt bisher meist die Souveränität die Überhand.
Um menschenrechtsverletzenden Regierungen den Verweis auf Artikel 2 (7) unmöglich zu machen, haben sich die Vordenker der Menschenrechte eine – allerdings in sich widersprüchliche – Argumentation ausgedacht, die zwei schwer zu vereinbarenden Zielsetzungen zugleich Rechnung tragen sollte:
Das Konzept einer Schutzverantwortung »jeder souveränen Regierung für Leib und Leben der eigenen Bevölkerung« scheint zunächst Souveränität und Menschenrechte in einem Konzept zusammenzuführen. Im zweiten Schritt wird dann die Souveränität deutlich eingeschränkt: Wenn eine Regierung dieser Verantwortung nicht gerecht werden kann oder will, dann könne diese Schutzverpflichtung mit einer Entscheidung des Sicherheitsrats auf die Internationale Gemeinschaft übertragen werden. So hat es die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer Resolution im Jahre 2005 entschieden.
Unter dem Deckmantel der Flugverbotszone wurde sogleich die Jagd auf Gaddafi persönlich eröffnet
Erschrocken über so viel Mut hat sie dann diese Übertragung gleich wieder zu Gunsten der Souveränität begrenzt: Der Sicherheitsrat darf dabei nicht über einen Regimewechsel – etwa den Sturz Assads – entscheiden. Und was schon der Sicherheitsrat nicht darf, dürfen einzelne Regierungen oder eine »Koalition der Willigen« erst recht nicht.
Die Frage drängte sich sofort auf: Wenn eine Regierung systematisch tötet, wie kann man das Töten von außen beenden, ohne diese Regierung zu stürzen? Das konnte in der Wirklichkeit des Krieges in Libyen nicht gutgehen: Unter dem Deckmantel der Flugverbotszone wurde sogleich die Jagd auf Gaddafi persönlich eröffnet.
Mit der Entscheidung des Sicherheitsrats war der militärischen Intervention zur Ausschaltung der libyschen Luftwaffe der Makel des Völkerrechtsverstoßes genommen. Aber neues Völkerrecht war damit nicht entstanden. Die konzeptionelle Grundlegung der Schutzverantwortung stammt aus einer Resolution der Generalversammlung – und solche Beschlüsse sind lediglich nicht bindende politische Absichtserklärungen. Völkerrecht entsteht erst mit förmlichen Verträgen oder aber als Gewohnheitsrecht aus einer politischen Praxis, die erkennbar durch einen rechtlichen Bindungswillen getragen wird.
Warum berät der Ethikrat nicht über Auslandseinsätze der Bundeswehr?
Die Überdehnung des Mandats für Libyen war nur einer der Schwachpunkte, die einer Weiterentwicklung des Konzepts im Wege stehen werden. Ungeklärt ist weiterhin, welche Schwere und Dauer der Menschenrechtsverletzung das Verfahren auslösen soll. Und dann kommt noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ins Spiel: Darf die Internationale Gemeinschaft das Risiko von 50.000 Toten in Kauf nehmen, um vielleicht (allerdings kaum abschätzbar) 10.000 Opfer Gaddafis in Benghazi zu verhindern?
Menschenleben lassen sich nicht wägen, heißt es unter Juristen – aber im humanitären Kriegsvölkerrecht ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inzwischen längst etabliert. Wir haben in Deutschland einen Ethikrat, der über Stammzellen berät, bisher aber nicht darüber, ob wir bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland den Tod von fünfzig Menschen hinnehmen dürfen, um eventuell zehn zu retten.
Der Krieg in Syrien gibt erneut Veranlassung, über diese Fragen nachzudenken. Soviel aber steht fest: Die »responsibility to protect« ist bestenfalls im Werden befindliches Völkerrecht der Zukunft, in statu nascendi. Und für das Ziel, eine Regierung zu stürzen, kann man sich auf diese Grundsätze bisher überhaupt nicht berufen.
Den vollständigen Artikel der Zenith finden Sie hier
< Nahostexpertin Muriel Asseburg über neue Gespräche zwischen Israel und Palästina