Mossul ist befreit – der Untergang des sogenannten „Kalifats“ ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verliert immer weiter an Boden. Im Nordirak haben die irakischen Kräfte Mossul nach langen, verlustreichen Kämpfen unter ihre Kontrolle gebracht. Das ist unbestritten ein großer strategischer Erfolg. Und doch wird es noch lange dauern, bis dort wieder so etwas wie Sicherheit herrscht. Im Ostteil der Stadt, den die Dschihadisten Anfang des Jahres an die irakischen Kräfte verloren hatten, haben sie nach amerikanischen Angaben seither Hunderte Angriffe geführt. Auch dem Westteil Mossuls, das in Trümmern liegt, droht eine Phase der Instabilität.
Der Preis, zu dem der Irak diesen Kampf für sich entschieden hat, ist hoch. Vielfach sind Zivilisten die Leidtragenden: Sie werden Opfer von Luftangriffen oder vom IS als menschliche Schutzschilde missbraucht. Es gibt Berichte über Misshandlungen Gefangener durch irakische Soldaten und schiitische Milizionäre. Ungeklärt ist, wer nach der Rückeroberung über Mossul und den Norden des Iraks herrschen wird. Der Sieg über den IS könnte zugleich die Saat neuer Konflikte legen. Es liegt in der Verantwortung der Staatengemeinschaft, auf einen fairen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Sunniten, Schiiten, Kurden sowie anderer religiöser und ethnischer Minderheiten zu dringen. Denn die Regierungen in Bagdad und im irakisch-kurdischen Arbil verfolgen vor allem eigene Interessen. Im Hintergrund warten Iran und die Türkei darauf, ihr Einflussgebiet auszuweiten.
Das gilt auch für das syrische Raqqa, die letzte Hochburg des IS, die von überwiegend kurdischen, von Amerika unterstützten Milizionären angegriffen wird. Längst ist mit Blick auf die Zeit nach dem IS ein Kampf um den Norden und den Osten Syriens entbrannt, an dem neben den „Kriegsparteien“ des Landes auch die jeweiligen Schutzmächte beteiligt sind: die Vereinigten Staaten, Russland, Iran, die Türkei.
Selbst wenn die Dschihadisten sich noch eine Weile in Raqqa halten können, ist das „Kalifat“ dem Ende nahe. Von dem Gebiet von der Größe Großbritanniens, das der IS im Sommer 2014 kontrollierte, hat er mehr als zwei Drittel verloren – und dementsprechend auch Einnahmequellen. Berichte, dass „Kalif Ibrahim“ alias Abu Bakr al Bagdadi tot sei, machen, nicht zum ersten Mal, die Runde.
Das Schrumpfen seines Territoriums bedeutet allerdings nicht, dass auch der globale Terror des IS aufhört. Im Gegenteil. Drastisch wie seit langem nicht haben die Dschihadisten zuletzt ihre Fähigkeit bewiesen, Anschläge jenseits Syriens und des Iraks zu verüben. Allein im Fastenmonat Ramadan – aus Sicht des IS eine besonders „verdienstvolle Zeit“ fürs Morden – wurden verheerende Anschläge unter anderem in Ägypten, auf den Philippinen, in Großbritannien, Afghanistan und Iran verübt. Um die Schwäche in seinem Herrschaftsgebiet zu kaschieren, definiert der IS sich verstärkt als Marke. Somit wird auch das Jahr 2017 als „ruhmreich“ gefeiert werden, Kalifat hin oder her.
Gerade westliche Gesellschaften werden die Dschihadisten noch stärker ins Visier nehmen. Sie versuchen damit, in deren offene Flanke zu stoßen und den potentiellen Konflikt zwischen dem Sicherheitsinteresse auf der einen und dem Wunsch der Bürger nach Schutz vor übermäßiger Überwachung auf der anderen Seite auszunutzen. Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit angesichts terroristischer Bedrohungen sollen, so das Kalkül des IS, zunehmen und das westliche Modell destabilisieren und delegitimieren, nicht zuletzt unter den Muslimen in diesen Ländern. Ein umsichtiger Staat, der sich dieser Gefahren bewusst ist, vermeidet jeden Anschein von Ungleichbehandlung seiner Bürger und formuliert Sicherheits- und Neutralitätsgesetze nicht nur religionsneutral, sondern meint das auch so. Ansonsten droht die Saat der Zwietracht auch hierzulande aufzugehen.
Ein Patentrezept, um das Nachwachsen „einsamer Wölfe“ und die Bildung von Terrorzellen im Westen zu verhindern, ist damit noch nicht gefunden. Die Gründe dafür, dass sich Menschen bereitfinden, im Namen einer menschenverachtenden Ideologie zu morden und das eigene Leben hinzugeben, sind vielfältig. Sicherheitspolitische Maßnahmen müssen einhergehen mit Programmen der sozialen und gesellschaftlichen Prävention.
Auch theologisch muss dem IS begegnet werden. Zu sagen, der Dschihadismus habe mit dem Islam nichts zu tun, reicht nicht aus. Eine glaubwürdige Reform, die aus dem Innern dieser Weltreligion kommt, ist nötiger denn je. Der gegenwärtige Islam, wie er etwa von der Al-Azhar-Universität in Kairo vertreten wird, ist theologisch erstarrt und geistig verstaubt. Selbst nach dem Ende des IS dürfte es nicht lange dauern, bis die nächste militante Gruppe auftritt, die sich auf islamische Lehren bezieht und damit Erfolg hat. Das Ende des Kalifats sollte ein Weckruf für die Muslime sein, vor sich selbst über den Zustand ihrer Religion und deren Institutionen ehrlich Rechenschaft abzulegen. Darin läge die Chance einer Erneuerung. Groß ist sie nicht.
Quelle: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/is-kommentar-nicht-das-ende-des-terrors-15101948.html
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