Herr Dschumblatt, das Ziel der Syrien-Konferenz ist die Bildung einer Übergangsregierung aus Regime- und Oppositionsvertretern. Ist das nicht ein Verrat an den Revolutionären, die seit 2011 für ein Ende des Assad-Regimes kämpfen?
Ich unterstütze nach wie vor das syrische Volk in seinem Kampf um Freiheit von diesem tyrannischen Regime. Anders als 2011 gibt es inzwischen aber viele Oppositionsgruppen, und die Mächte, die in Syrien involviert sind, verfolgen so viele unterschiedliche Interessen, dass es schwieriger geworden ist als zu Beginn der Revolution. Nicht geändert hat sich, dass das syrische Volk ein besseres, würdevolles Leben und Freiheit von diesem Regime braucht.
Das heißt, Assad muss weg?
Ja, natürlich.
Ist er in Ihren Augen ein Kriegsverbrecher?
Ja. Er hat Millionen Menschen vertreiben lassen, die offiziellen Opferzahlen liegen bei 130.000. Für die Zerstörung ganzer Dörfer ist er verantwortlich, für Bombardierungen, für Folter in den Gefängnissen. Wie viele dort verschwunden sind, weiß ich nicht. Das gesamte kulturelle Erbe Syriens hat er ausgelöscht, gar nicht zu sprechen vom Einsatz seiner Chemiewaffen.
Sollte der Internationale Strafgerichtshof Anklage gegen ihn erheben?
Nicht nur gegen ihn, sondern gegen seine ganze Entourage. Diese Entscheidung muss der UN-Sicherheitsrat treffen. Doch der ist gespalten, und China und Russland als Unterstützer Assads verfügen über ein Vetorecht.
Im Sommer will Assad sich zum dritten Mal zum Präsidenten wählen lassen.
Es wäre ein Verbrechen gegen das syrische Volk, einem solchen Herrscher zu erlauben, sein Mandat zu verlängern. Solche Menschen müssen gehen! Auch Adolf Hitler ist demokratisch gewählt worden und hat dann Deutschland in den Untergang geführt.
Müsste international nicht viel mehr Druck auf Damaskus ausgeübt werden?
Wenn man sieht, wie wenig das Schicksal Syriens die so genannte internationale Gemeinschaft berührt, könnte man verzweifeln. Weit mehr als 100.000 Tote, und noch immer hat sich nichts getan. Es erinnert an die Machtspiele in Ruanda und Kambodscha.
War es ein Fehler, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nach dem Giftgaseinsatz im vergangenen Jahr nicht wie angedroht syrische Stellungen bombardiert haben?
Dazu brauchen sie eine vereinte Opposition mit einer starken Freien Syrischen Armee als Kern. Die gibt es leider auch deshalb nicht, weil einige arabische Staaten die FSA zugunsten islamistischer Gruppen verraten haben. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen. Jetzt ist es nach so viel Zerstrittenheit immerhin gelungen, sich mit vereinten Kräften hinter die in Genf versammelte Opposition zu stellen.
In der Schweiz wird nun darüber verhandelt, Stützen des alten Regimes in eine Übergangsregierung aufzunehmen.
Der Plan wurde im Juni 2012 in Genf beschlossen. Jetzt geht es darum, ihn umzusetzen. Dazu brauchen sie den Konsens von Russland, Amerika, Iran, der Türkei und Saudi-Arabien.
Hätte Iran mit am Verhandlungstisch sitzen sollen?
Selbstverständlich. Teheran ist ein zentraler Akteur in Syrien.
Wäre in Genf ein syrisches „Taif“ wünschenswert? Der libanesische Friedensvertrag von 1989 teilte die wichtigsten Staatsämter unter den religiösen Gruppen auf.
Nein. Natürlich muss es eine Machtteilung geben, aber die sollte nach dem Vorbild der republikanischen syrischen Verfassungen vor der Machtergreifung Hafez al Assads 1970 geregelt werden, nicht entlang religiöser Linien. Syrien ist ein zentrales Element für Stabilität im Nahen und Mittleren Osten, darum darf seine Einheit nicht gefährdet werden.
Wie soll das gelingen?
Als erstes müssen Armee und Sicherheitsapparat von kriminellen Elementen gesäubert werden. Die Fehler aus dem Irak zu wiederholen, wo die Armee aufgelöst wurde, wäre eine Katastrophe. Sie muss als Institution erhalten bleiben.
Das heißt, die Oppositionsarmee FSA sollte ihr nach einem Friedensschluss eingegliedert werden?
Auf jeden Fall. Auch wenn die Armee zurzeit durch den Krieg geschwächt ist, führt daran kein Weg vorbei: Sie ist die zentrale syrische Sicherheitsinstitution. Nur sie kann die Einheit Syriens sicherstellen.
Fällt das Land nicht gerade auseinander?
Die Einheit des Landes muss um jeden Preis gewahrt werden, sonst haben wir einen zweiten Irak. Den gibt es zwar noch als Staat, aber mit so vielen konfessionellen und ethnischen Enklaven, für die Kurden, für Christen, Turkmenen, und natürlich für Schiiten und Sunniten. In Syrien ist alles noch viel komplizierter, Drusen und vor allem Alawiten sind hier bedeutende Minderheiten. Deren Ängste müssen bei einer möglichen Verhandlungslösung unbedingt berücksichtigt werden, denn nicht alle Alawiten sind Assad-Anhänger.
Braucht es nach Genf eine internationale Stabilisierungstruppe, um den Konflikt zu befrieden?
Ich sehe nicht, wie multinationale Einheiten in Syrien Erfolg bringen könnten. Hauptziel von Genf muss sein, die syrischen Institutionen zu erhalten.
Walid Dschumblatt hat sich bald nach Beginn des Aufstands in Syrien 2011 für den Sturz des Assad-Regimes eingesetzt. Während der „Zedernrevolution“ von 2005 im Libanon war der Vorsitzende der Sozialistischen Fortschrittspartei (PSP) einer der Anführer der anti-syrischen Proteste. Wegen seiner Kritik an Assad gilt der 64 Jahre alte Dschumblatt als einer der gefährdetsten Politiker des Libanons. Einst kämpften seine Milizionäre an der Seite von Arafats PLO gegen die israelische Besatzung Beiruts. Dschumblatts Vater Kamal war 1977 im Auftrag von Baschar al Assads Vater Hafez ermordet worden. (mrb.)
Die Fragen stellte Markus Bickel.
Quelle: F.A.Z.
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