Das heute von Verleger dem Debatten-Magazin The European gegebene Interview ist ein solcher Impuls, mit dem er inzidenter auf das am vergangenen Sonntag vor dem Brandenburger Tor vom Zentralrat der Juden angezettelte Ablenkungsmanöver reagiert, zudem brav deutsche Prominenz herzitiertermaßen erschien, die neben ca. 2500 Personen gegen angeblichen Antisemitismus in Deutschland „protestierte“. Antisemitismus ist ebenso wie Rassismus eine moralische Perversion; davon ist unser Volk zum Glück weitestgehend geheilt.Graumann & Co. waren erschreckt, dass sich selbst in Deutschland wegen der asymmetrischen Gazaverbrechen Widerstand regte, in London allein waren 200.000 Menschen auf den Straßen und demonstrierten – das waren keine Antisemiten. Hintergrund der vom ZR angezettelten Ablenkungsvolte war unübersehbar der grauenvolle letzte Gazakrieg -auf der Leeseite der Verbrechen in Syrien / Irak- , der uns schrecklich vor Augen geführt hat, dass die Großmächte, die UNO, ja vor allem die Europäer und damit auch wir versagt haben, den israelo-arabischen Konflikt einer gerechten Lösung näherzubringen. Spätestens nach dem 6-Tage-Krieg 1967 bot sich auf der Basis der arabischen Niederlage für die o.g. Versager die Chance, auf der Basis des Völkerrechts, dem Israel schließlich seine Geburt verdankt, von den Konfliktparteien über das Erzwingen gegenseitigen Verzichts auf Maximalforderungen eine Friedenslösung zu zimmern.Verleger, der am 30. Juli mit uns vor Schloss Bellevue, dem Dienstsitz des deutschen Bundespräsidenten, gegen die Lieferung deutscher Waffen ins Heilige Land demonstrierte, geißelt in dem nachstehenden Interview die von der Weltgemeinschaft wegschauend tolerierten israelischen Verbrechen am palästinensischen Volk. Solange wir hierzu Augen und Ohren verschließen und herzlos zulassen, dass dem palästinensischen Volk Recht und Freiheit vorenthalten werden, werden Israelis und Palästinenser, Juden und Araber keinen Frieden finden. Die Welt finanziert den Wiederaufbau in Gaza und die Siedlungen der jüdischen Kolonialisten, und der Westen liefert Israel Waffen zur Garantie einer Scheinsicherheit. Aus nur noch wenigen arabischen Ölländern fließen Petro-Dollars zur Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens an die darbenden „Verwandten“ bis zum nächsten Mal…… Israel hat es bis dahin gewiss erreicht, auch weltweit seine letzten Sympathien zu verspielen (oder sollte ich schreiben, zu verbomben?). Wer wird dann noch einmal vor dem Brandenburger Tor für Israel demonstrieren?
Rolf Verleger
Der Ravensburger Rolf Verleger wurde 1951 als Sohn zweier Überlebender der Judenvernichtung geboren. Er ist Psychologe an der Universität Lübeck. Von 1997 bis 2009 war Verleger ehrenamtlich für die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein tätig sowie als Delegierter im Zentralrat von 2005 bis 2009.
Mit den besten Grüßen
Ihr
Harald Moritz Bock
_____________________
http://www.theeuropean.de/rolf-verleger
Rolf Verleger auf The European folgen:
Liebe Freunde,
das Internet-Organ „The European“ hatte mir folgende Frage zum Beantworten (in maximal 5500 Zeichen) gestellt:
Die Kritik an Israels Militäroffensive war in den vergangenen Wochen von mehreren antisemitischen Vorfällen begleitet. Diese zeigen: Viele Menschen hierzulande machen keinen Unterschied zwischen dem Land Israel und dem jüdischen Volk. Ab wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?
Die Antwort gibt Rolf Verleger
http://www.theeuropean.de/rolf-verleger/8986-israels-politik-beschaedigt-das-judentum
Der 4D-Effekt
Deligitimiert, dämonisiert, doppelter Standard: Was anderen als Antisemitsmus vorgeworfen wird, macht Israel mit den Palästinensern schon lange. Noch schlimmer wird das Ganze, wenn noch ein viertes „d“ hinzu kommt: Deutschland.
Ist Kritik an Israels Politik antisemitisch? Die Frage ist seltsam. Ab wann ist kritisches Denken antisemitisch, mithin nicht mehr statthaft? Kritisches Denken ist immer statthaft!
Israel ist eine ethnisch abgestufte Demokratie. Die meisten Rechte haben jüdische Bürger, dann kommen nichtjüdische Bürger und dann nichtjüdische Jerusalemer. Danach kommen die Rechtlosen: Über die vielen nichtjüdischen Bewohner des besetzten Westjordanlands herrscht Israels Militärdiktatur. Die Bewohner Gasas hat Israel seit 2006 eingekerkert und bringt sie alle paar Jahre wieder zu Hunderten um.
Die wesentliche Frage ist allein, ob diese Beschreibung den Tatsachen entspricht. Was zählt, sind Fakten. Die Person, die diese Fakten nennt, einen „Antisemiten“ zu nennen, wäre ein reines „ad hominem“-Argument, also Herabsetzen der Person, um nicht sachlich argumentieren zu müssen.
Die „drei Ds“
Es wird manchmal behauptet, man könne antisemitische Kritik daran erkennen, dass Israel „d“eligitimiert und „d“ämonisiert und mit „d“oppeltem Standard (= zweierlei Maß) gemessen werde. Fällt denjenigen, die das behaupten, nicht auf, dass Israels Politik seit eh und je diese „drei Ds“ auf die Palästinenser anwendet?
1. Delegitimierung: „Es gibt kein palästinensisches Volk“; „*Wir* brachten die Wüste zum Blühen“; „sie wurden nicht vertrieben; ihre Muftis haben ihnen befohlen zu gehen.“ „Gott hat uns dieses Land gegeben.“
2. Dämonisierung: Die gewählte Hamas-Regierung (wie früher die PLO) wird grundsätzlich mit herabsetzenden Beinamen versehen wie „radikalislamistisch“, „terroristisch“, „fundamentalistisch“. „Sie heiligen den Tod, wir heiligen das Leben“ (Netanjahu). „Die Araber zwingen uns, ihre Kinder zu töten“ (Golda Meir). Nicht wenige nationalreligiöse Juden sehen in den Arabern „Amalek“ (das mythische Bibelvolk, das Israel vernichten wollte).
3. Doppelter Standard: Wie oben im ersten Absatz eingeführt, misst Israel seine jüdischen und nichtjüdischen Bewohner mit zweierlei Maß in ihren materiellen Rechten (Aufenthaltsrechte, Immobilienbesitz, staatlich Zuschüsse u.a.).
Fazit: Wenn die „3Ds“ ein Merkmal von Antisemiten sind, dann ist Israels Politik schon lange antisemitisch – aber nicht gegen Juden, sondern gegen Palästinenser.
Es bleibt auch unklar, was unter Delegitimierung und Dämonisierung Israels zu verstehen ist. Soll es antisemitisch sein darauf hinzuweisen, dass Israel zu seiner Staatsgründung 700.000 Einwohner Palästinas vertrieb, ihnen die Rückkehr verweigerte und sie entschädigungslos enteignete und dass diese Enteignungen und Verdrängungen bis zum heutigen Tag weitergehen? Immerhin gibt es dazu gültige UN-Resolutionen?!
Soll es antisemitisch sein zu verlangen, dass sich Israel an solche Resolutionen und an Völkerrechtsnormen wie die Genfer Konvention halten soll und die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs akzeptiert? Es wäre schon ziemlich viel gewonnen, wenn sich Israel in dieser Hinsicht wie ein durchschnittliches europäisches Land verhielte, z.B. wie Serbien. Aber dazu bräuchte es klare Vorgaben von außen und gegebenenfalls Sanktionen. Im Moment wird hier international in der Tat mit zweierlei Maß gemessen, zum Vorteil Israels, nicht zum Nachteil.
„Ja aber wir Deutschen haben doch …“
Vorfahren der heutigen Deutschen haben das deutsche und europäische Judentum umgebracht und beraubt. Ist es deswegen moralisch vertretbar, dass heutige Deutsche sagen „Ach, tut uns schrecklich leid. Ihr geht am besten ins ein anderes Land und schmeißt dort die Leute raus“?
Die Zurückhaltung deutscher Offizieller, Israels heutiges Unrecht anzusprechen und zu sanktionieren, mag verständlich sein. Sie ist aber falsch: Sie ist schlicht Beihilfe zu neuem Unrecht. Dass dies aus schlechtem Gewissen geschieht, macht es nicht besser. Was hier passiert, ist die Fortsetzung einer weit verbreiteten, früher als „typisch deutsch“ beschriebenen Einstellung: des Mitläufertums und Mundhaltens.
Unser jüdisches Selbstbild
Zwischen Israel und Judentum kann und soll man deutlich unterscheiden. (Nebenbei: Judentum ist nicht „jüdisches Volk“; Judentum ist eine Religion wie Christentum und Islam, also nicht etwas, das ein „Volk“ konstituiert.) Aber kann man im Ernst Kritikern der israelischen Rechtsverletzungen vorwerfen, dass sie diesen Unterschied nicht sehen?
Wie lässt sich dieser Unterschied zwischen Israel und Judentum erkennen, wenn unsere Politiker und Medien und die Repräsentanten des Judentums fast unisono Israels Maßnahmen rechtfertigen und Kritik an dessen Menschenrechtsverletzungen als gegen Juden gerichtet („antisemitisch“) denunzieren? Das Beschweigen und Rechtfertigen der israelischen Rechtsverletzungen produziert am Ende die Abneigung gegen Juden, die angeblich bekämpft werden soll.
Das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf wir Juden stolz sein können. Ein Staat, der auf jüdischen Grundwerten basiert, muss nach Gerechtigkeit streben. Er muss Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Israels Politik und Ideologie beschädigen das Judentum in seiner Substanz. Früher erlittenes Unrecht berechtigt nicht dazu, anderen Unrecht zu tun. Im Geiste des Judentums sollte der Staat Israel als erstes die Palästinenser für jahrzehntelang ihnen angetanes Unrecht um Verzeihung bitten. Bis dahin muss das Ausland Israel bewegen, Rechtsnormen einzuhalten. Scharfe Kritik mit ernsthaften Konsequenzen, als Sanktionen und Boykottmaßnahmen, ist daher wünschenswert.
Die Antwort des israelischen Botschafters in Deutschland, Herrn Hades-Handelsman, ist hier
http://www.theeuropean.de/yakov-hadas-handelsman/8991-antisemitismus-als-kernproblem-identifizieren
Bei der Gelegenheit möchte ich auf den Spendenaufruf der Palästinensischen Gemeinde Hannover hinweisen, deren Vorsitzenden, Dr. Yazid Shammout ich kenne.
Mit besten Grüßen
Rolf Verleger
Zuletzt aktualisiert am 16.09.2014
< Sind wir alle Antisemiten?